Bonita Avenue (German Edition)
Arbeit, die aus Gründen, die ihm entfallen sind, nie fertig geworden ist. In den darauffolgenden Jahren wurde Kannegieter Rektor in Groningen, war dann eine Zeitlang Mitglied des Verwaltungsrates des Telekommunikationskonzerns KPN, und seit etwa fünf Jahren berät er als Direktor des Centraal Planbureau die Regierung in Wirtschafts- und Finanzfragen.
« Mach’s » , sagte er eine Woche zuvor am Telefon, als Sigerius ihm erzählte, dass man bei ihm angefragt hatte, « mach’s » . Danach Schmeicheleien: Das Wissenschaftsministerium sehne sich nach einem tatkräftigen Fachminister, jemandem mit fundierten Ansichten über Bildung, und gleichzeitig nach einem Mann mit Ausstrahlung, der den Mumm habe, die Richtung vorzugeben. Sigerius äußerte seine Zweifel hinsichtlich der kurzen Amtszeit, nicht einmal zwei Jahre, «was sind schon anderthalb Jahre, Frederik?», aber davon wollte Kannegieter nichts hören, jedes Kabinett könne jederzeit stürzen, man sei sich in Den Haag seines Daseins niemals sicher – «in Zoetermeer, Frederik, wer baut eigentlich ein Ministerium in Zoeter meer ?» «Zuschlagen», sagte Kannegieter. Du schnappst immer zu, alter Postenkannibale, dachte er. Wenn Olde Kannegieter empfiehlt, nicht zuzuschlagen, schlägt er eine Woche später selber zu.
Natürlich hat er erklärt, er stehe zur Verfügung. Beide Szenarien hat er genau abgewogen: das hektische Leben im Glaskasten Den Haag und die Gemächlichkeit in einem Bauernhaus am Rande einer Provinzuniversität, an der er in absehbarer Zeit seine Rolle ausgespielt haben würde. Zurück an sein Institut oder, schlimmer noch, an die Fakultät? Er kann es sich nicht vorstellen. Amerika hat er in Betracht gezogen, eine Option ist Amerika immer. Princeton hätte ihn gern, dort könnte er Universitätsprofessor werden, aber er will niemanden hinters Licht führen: Seine mathematischen Fähigkeiten sind schon seit Jahren auf dem absteigenden Ast. Außerdem muss er zugeben, dass er am öffentlichen Amt hängt, vielleicht sogar an der Macht an sich.
Unterdessen erweist Kruidenier sich als zäh, sein Parteifreund übersteht eine Rücktrittsforderung nach der anderen. Sigerius’ Intuition sagt ihm, dass die Zeit, die ins Land geht, nicht zu seinem Vorteil ist, darum hat er Kannegieter angerufen und auf diesen Termin gedrängt. Während sie in ihr Clubsandwich beißen, sprechen sie über ihre Familien, Sigerius beantwortet Fragen zur Situation in Enschede und kommt dann zur Sache. «Das Problem ist», sagt er langsam, «dass der Premierminister über einen eigenen Kandidaten nachdenkt. Kok wollte Kruidenier nicht haben, Kruidenier wurde ihm von der D66 aufs Auge gedrückt. Je mehr Zeit der Premier hat, umso größer ist die Chance, dass er tatsächlich jemanden vorschlägt. Es sei denn, so habe ich mir gedacht, und deshalb bezahle ich nachher auch dein Mittagessen, Frederik – es sei denn, du machst deinen Einfluss auf ihn geltend.»
«Und du glaubst, Wim hört auf mich?» Sein Freund hat die imposante Brille abgenommen und putzt sie mit einem karierten gelben Tuch.
«Eigentlich schon, ja.» Kannegieter ist nicht nur der Rechenmeister der Regierung, der Mann, der mit facts & figures zu Kabinettssitzungen ins Torentje kommt, sondern er ist auch ein prominenter Sozialdemokrat, ein Parteiideologe, der am neuen Grundsatzprogramm der PvdA mitschreibt und Wim Kok souffliert, wann immer das Volk aus dem Arbeiterherzen heraus angesprochen werden muss. Wenn der Premier auch nur eine ideologische Feder lässt, dann hebt Kannegieter diese Feder auf und radelt damit zur Wiardi-Beckman-Stiftung, dem sozialdemokratischen Thinktank.
Kannegieter prüft die Brillengläser im Sonnenlicht. «Ich auch», sagt er, «ich auch.» Gespielte Eitelkeit, ironische Selbstironie, bereits in Boston war das seine Stärke. Sigerius erinnert sich an den Empfang eines Chemikers, der den Nobelpreis bekam, sie standen mit irgendeiner Amerikanerin zusammen, die ausschließlich darüber redete, ob sie irgendwelche Clickfonds abstoßen solle oder nicht: Sie sind doch Mathematiker, wie denken Sie darüber? Ich hätte da einen Rat, antwortete Kannegieter ernst, aber der gilt nur für komplexe Dollars in einem unendlichdimensionalen Hilbert-Raum.
Eine Weile beobachten sie schweigend, wie der Ober, der eine orangefarbene Schürze trägt, an der Straßenfront des Dudok eine mit dem niederländischen Löwen bedruckte Fahne anbringt.
«Wann geht die Chose heute Abend los?», fragt
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