Bonita Avenue (German Edition)
getäfelten Wandelgang. Etwa zehn Stunden pro Woche hat er Besprechungen. Aber reden? Mit wem denn? Er bleibt vor einem der hohen Fenster stehen und schaut, bis es exakt zwei Uhr ist, auf die Treppengiebel der Haupttürme.
Das helle Büro der stellvertretenden Premierministerin hat die gleiche Holzvertäfelung, ihr gläserner Schreibtisch ist leer und nicht einmal halb so groß wie seiner in Twente. Sie empfängt ihn herzlich, mit einem Hauch von Geistesabwesenheit, der ihm typisch für hochstehende Gesprächspartner zu sein scheint. Sie kennen einander vom obligaten Händeschütteln auf Parteitagen; Sinn der Sache ist, dass sie auf den Ministerrat einwirkt, und vor allem auf Kok. Das Gespräch verläuft gut, sie unterhalten sich fast zwei Stunden lang, sie ist über seine Bereitschaft «hocherfreut» und überhäuft ihn wegen seiner Zeitungsartikel, in denen er sich zur universitären Bildung geäußert hat, mit Lob. «Wir können uns keine unglückliche Nominierung mehr leisten», sagt sie. Sie sprechen heikle Themen an, er bringt seine eigenen Ansichten aufs Tapet, sie benennt mit ihrer intelligenten Frauenstimme die Knackpunkte. Manchmal steckt er die linke Hand in die Hosentasche und reibt mit dem Daumen über den scharfen Bart des Schlüssels.
Auf dem Haager Hauptbahnhof schwirren Gruppen singender Fans der Nationalmannschaft herum, er muss rennen, um den Zug um sechs nach vier noch zu bekommen. Als er zweieinhalb Stunden später in Enschede aussteigt, geht er in eine Telefonzelle und wählt die Nummer von Aarons Haus. Er lässt das Telefon klingeln, bis das Besetztzeichen ertönt. Dann ruft er von seinem Handy aus Tineke an. «Ich stehe in Den Haag am Bahnhof», sagt er. «Ich schau mir das Fußballspiel nachher doch zu Hause an.»
«Schön», sagt sie mit ihrer vertrauten, angenehmen Stimme, «da wird Janis sich freuen. Wie war’s?»
«Nützlich. Ich soll dich von Frederik grüßen. Er hat sich große Mühe gegeben.»
«Soll ich das Essen für dich aufbewahren?»
«Gerne. Ich muss jetzt einsteigen.»
«Gute Reise, mein Lieber.»
Er verlässt den Bahnhof, vor dem Zeitschriftenladen nickt ihm ein Junge mit nassen Locken und einer Reisetasche zu, er grüßt lächelnd zurück, immer lächelnd zurückgrüßen, und fasst den Beschluss, ein Taxi zu nehmen.
Er räuspert sich. «Vluchtestraat.»
Der Mercedes gleitet wie ein Rochen durch die orange geschmückten Straßen. Kinder haben die hölzernen Bauzäune bemalt. Reihenhäuser aus dunkelrotem Backstein, der die Wärme des Tages speichert, offene Fenster mit Fliegengittern darin. Es dauert noch Stunden, bis hier die Dunkelheit hereinbrechen wird. Die Straße, von der Joni und Aaron fünf Tage zuvor mit viel Gepäck losgefahren sind, hängt voller orangefarbener Wimpel und Ballons – als wäre nie etwas explodiert. Enschede ist ein Salamander, der seinen Schwanz verloren hat.
Er bittet den Fahrer, am Anfang der Straße anzuhalten, reicht ihm das Geld und holt, noch ehe er aussteigt, den Schlüssel aus der Hosentasche. Einmal tief durchatmen, dann geht er, ohne zu zögern, in die Vluchtestraat hinein, erst an einer Art Schwesternwohnheim vorüber, dann überquert er diagonal die ruhige Straße und biegt auf den kurzen Gartenweg ein, der zu Aarons Haustür führt. Wenn er der Form halber klingelt, hören die Nachbarn ihn. Nein, das muss wie mit einem Pflaster gemacht werden, ein Ruck, ratsch, und es ist ab. Mit angehaltenem Atem steckt er den jungfräulichen Stahl ins Schloss. Das Ding blockiert. Er zieht und rüttelt ein wenig daran, vorsichtig, seine Hände werden feucht.
Im Verlauf der letzten Woche, die die beiden im Bauernhaus verbrachten, kam Aaron mit einem nagelneuen Schlüssel an, und während Sigerius sich anhörte, was er darüber zu berichten wusste – die Stadt hatte alle aufgebrochenen Türen mit neuen Schlössern versehen lassen –, registrierte er genau, wo Aaron ihn hintat: ans Schlüsselbund in der Tasche seiner Sommerjacke, eines Cordjacketts, das er jeden Abend ordentlich auf einem Bügel in die Garderobe neben der Haustür hängte. An jenem Abend war er als Einziger im Wohnzimmer sitzen geblieben, und erst als das Bauernhaus eingeschlummert war, hatte er das Schlüsselbund aus Aarons Innentasche gefischt. Auf der Toilette fummelte er den einzigen Schlüssel, der wie ein unbenutzter Hausschlüssel aussah, vom Ring. Am nächsten Tag schickte er seine Sekretärin zu einem Mister Minit, um einen Zweitschlüssel anfertigen zu
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