Bonita Avenue (German Edition)
wenn er bis Brüssel-Süd sitzen blieb, auch wenn vom Hauptbahnhof aus ein Zug nach Linkebeek fuhr. Das Mädchen nahm das Kaugummi aus seinem schwarzumrandeten Mund und streckte den Arm über Tinekes Schoß in Richtung des metallenen Abfallbehälters. Dann stand es auf, berührte dabei sein linkes Knie und reihte sich in den nun immer schneller fließenden Strom der Aussteigenden ein. Auch Jonis Mutter erhob sich jetzt und zog, ihm den Rücken zukehrend, einen Trolley aus dem Gepäckfach. Von hinten, mit diesen schmalen, spitzen Hüften, hätte er sie nie erkannt.
Einer spontanen Eingebung folgend, beschloss er, ebenfalls auszusteigen, warum, wusste er nicht genau. Sollte er diesen absoluten Zufall sich in nichts auflösen lassen? Wenn er einfach auf seinen vier Buchstaben sitzen bliebe, gäbe es diese Begegnung nicht einmal. Mit erhöhter Herzfrequenz verließ er den Zug, die steinige Bahnsteigluft strömte in seine Lungen. Mit einem Sicherheitsabstand von fünf Stufen ging er in ihrem Kielwasser die Marmortreppe zur Bahnhofshalle hinauf. Ohne es wirklich zu wollen, verfolgte er Tineke, die mit eiligen Schritten ihren Koffer nach oben trug. In der Halle aus düsterem braunem Marmor stellte sie das karierte Ding auf seine Hinterräder und zerrte es ins Gewimmel. Kurz vor dem Haupteingang nahm sie ein Handy aus der Tasche ihres dunkelroten Wollblazers, tippte eine Nummer ein und fing an zu reden. Er sah sie in die Stadt gehen, weg war sie, und erneut zweifelte er an seinem Tun.
Anstatt umzukehren und auf seinen Bahnsteig zurückzugehen, anstatt nicht zu leben, rannte er hinter ihr her, hinaus ins Freie. Er spähte ins Zwielicht der künstlich beleuchteten Stadt. In der Menge an der Kreuzung, hinter der der Grote Markt lag, stand sie nicht. Er lief zum Rand des abfallenden Bürgersteigs, schaute sich um. Dort ging sie, sie war rechts abgebogen, in die Putterij; mit beschleunigten Schritten stopfte er das zwanzig Meter große schwarze Loch, und noch ehe er wusste, was er tat, legte er seine Hand auf den dicken Stoff ihres Blazers. Sie blieb stehen und drehte sich um. Schaute überrascht, erschreckt. Ihre sorgfältig geschminkte Haut lag wie zerknittertes Papier um ihre Jochbeine und Kiefer.
«Tineke», murmelte er, «ich …»
«Was sagen Sie?», fragte sie freundlich.
«Tineke», sagte er, lauter diesmal, «ich weiß nicht, ob es schlau ist …»
Jetzt erst sah sie ihn wirklich an, ihm fiel auf, dass sie ihn musterte. Sie streckte eine Hand aus und berührte kurz seinen Arm, als wollte sie ein zusätzliches Sinnesorgan zum Einsatz bringen. «Haben Sie mir eben im Zug nicht gegenüber gesess …» Aufs Neue veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, sie hob die hängenden Augenlider so weit wie möglich, ihr Mund formte ein erstauntes dunkelrotes O. «Aaron» , sagte sie, «jetzt erkenne ich dich! Du bist Aaron Bever. Na so was, Aaron, was …» Sie ließ den Griff ihres Koffers los, der sich schwankend aufrichtete. Machte einen Schritt auf ihn zu, fasste ihn bei den Schultern und küsste ihn auf die Wangen. Über ihre schmächtige Schulter hinweg sah er, dass am Straßenrand ein Wagen anhielt, ein sportlicher dunkelblauer BMW, dessen Scheinwerfer zweimal aufleuchteten. Sie sah sich um und hob eine Hand. Als sie wieder ihn ansah, sagte sie: «Wir sind in Eile. Ich muss einsteigen. Na so was, Aaron, ich habe dich gar nicht erkannt. Du hast dich … verändert. Ich war schon so lange nicht mehr in Enschede …» Sie ergriff seinen Unterarm, sah ihm in die Augen. «Ach, Aaron», sagte sie, «wie geht es dir jetzt … Alles ist so schrecklich gelaufen …»
Er war zu verdattert, um etwas sagen zu können. Jeden Moment konnte die Tür des BMW aufschwingen, und Sigerius käme auf ihn zu. Er schnappte nach Luft, ihm war schwindelig. Weil ihm nichts anderes einfiel, stammelte er: «Tineke, sag, wie geht es Siem? Ist er dadrin?» Er zeigte einfältig auf den ungeduldigen Wagen.
Sie ließ ihn los, ebenso plötzlich, wie sie seinen Arm ergriffen hatte. Sie trat einen Schritt zurück, ihr Gesicht verschloss sich wie eine bleierne Tür. «Was sagst du?», sagte sie wütend. «Hältst du mich zum Narren?»
«Nein», sagte er. «Wieso?» Er spürte, dass seine Augen feucht wurden.
«Mistkerl», sagte sie. «Was willst du von mir? Was machst du hier? Warum verfolgst du mich?»
Die Autotür öffnete sich. Ein kleiner, etwa fünfundvierzigjähriger Mann stieg aus, dessen welliges schwarzes Haar und getrimmtes Bärtchen im
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