Bonita Avenue (German Edition)
wir am nächsten Nachmittag, es kann aber auch später gewesen sein, eine Wanderung durch den Wald zu einem Hünengrab, und als wir dort ankamen, fand Wilbert neben dem Riesending einen ausgehöhlten Stein, in dem Wasser stand, und in diesem kleinen Becken schwammen drei Kaulquappen. Er fragte mich, ob ich die Kaulquappe mit dem «dicken Klatschkopf» sähe, das sei Siem, sagte er, und das Becken, in dem er herumschwimme, sei das, was Siem für das Weltall halte, über das er ja alles so genau wisse. Und die beiden anderen Kaulquappen, das seien er und ich, und Siem brülle uns zu, dass außer dem kleinen Schwimmbecken rein gar nichts existiere.
«Bist du selbst eigentlich noch gläubig?», fragte ich.
«Du könntest Jacob sein», sagte er. «Du wolltest doch wissen, woher ich das schlaffe Gesicht habe? Die Ärzte nennen das Fazialislähmung. Ein kaputter Gesichtsnerv. Bleibt so.»
«Gekämpft?», fragte ich, nicht verstehend, warum er jetzt damit anfing.
Wilbert lachte – ein alles andere als befreiendes Lachen. «Ihr in eurem Bauernhaus denkt wohl, ich ziehe mit einem Hammer von Tür zu Tür. Es ist eine ganz normale Ohrentzündung. Kommt davon, wenn man im Gefängnis mit einem Rührstäbchen aus Plastik Onkel Doktor spielt.» Er beugte sich vor, kam mit seinen Fingern ganz nah an mein Gesicht – einen Moment lang dachte ich, er würde mich berühren. «Von deinem Ohr aus läuft ein dünnes Kabel, ein Faden, eine Art Nerv zu deiner Wange, und dieser Nerv sorgt dafür, dass du noch immer dein glattes Puppengesicht hast. Meiner wurde durch die Entzündung zerstört. Siehst du die Mullbinden da?»
Er zeigte auf das Hochbett hinter mir, eine Konstruktion aus unlackiertem Ikea-Holz, die nur bis zur Hälfte der außergewöhnlich hohen Wand reichte; der Raum war riesig, das ehemalige Klassenzimmer musste zwei Türen gehabt haben, sodass man es mit einer Wand aus Gipsplatten hatte teilen können. Mit den Augen suchte ich den Schreibtisch ab, der unterm Bett stand und wie ein Kinderschreibtisch aussah; auf einer Deckschicht aus Steuerformularen und aufgerissenen Umschlägen lagen ein Stapel Verbandsstoff und eine Rolle Leukoplast.
«Jeden Abend muss ich mein Auge mit Augensalbe behandeln und dann abkleben. Sonst trocknet es aus, verstehst du. Aber wenn ich esse, fängt es von selber an zu tränen. Jacob, der will, dass ich mir eine Arbeit suche, ‹du musst wieder in Lohn und Brot›, und so weiter. Das wiederum ist ein Minuspunkt hier – die Leute sind Träumer. Glaubst du, so ein Gesicht stellt jemand ein? Kein verdammtes Schwein. Selbst ihr Jesus würde einen andern nehmen. Wenn der da» – wie ein Tramper zeigte er mit seinem Daumen auf das Stück Holz an der Wand – «diese Visage gehabt hätte, dann würde da jetzt jemand anders hängen.»
«Und eine Operation», sagte ich, «ich meine, plastische Chirurgie?»
«Willst etwa du das bezahlen?»
«Ich versuche bloß, mit dir mitzudenken.»
«Denk lieber nicht mit mir mit.»
Sein Mundwinkel triefte wieder, aber anstatt den Sabber aufzuschlürfen, fing er ihn mit dem Handrücken auf und schleuderte ihn mit einer kräftigen Bewegung aufs Linoleum. «Bitte sehr», sagte er, «es gibt keinen Gott, da liegt der Beweis.»
Da war sie – die ungehobelte Dreistigkeit, mit der er mich einst von Papas liebem Töchterlein in einen schwererziehbaren Teenager verwandelt hatte, der jede Unternehmung, die nicht den sofortigen Tod zur Folge hatte, lustig fand oder zumindest ausprobieren wollte. Doch jetzt wurde mir bewusst, was mein Vater ein Jahr lang hatte ertragen müssen: Ich ärgerte mich über diese Gebärde, seine Art des Denkens, seine Art des Nicht-Denkens. Im Fernsehen hatte ich einen niederländischen Bischof erzählen hören, dass er an einer mysteriösen Muskelkrankheit litt. Eine Zeitlang hatte der Schwarzrock nicht gehen können, eine schlimme Zeit im Rollstuhl, die seinen Glauben ernsthaft ins Wanken brachte. So sind sie, die Pfaffen. Ein Leben lang beten sie Erdbeben und Völkermorde weg, aber sobald sie selbst krank, schwach und unpässlich sind, verlieren sie den Halt.
Wilbert war aufgestanden und verschwand strammen Schritts hinter meinem Rücken. «Willst du was haben?», fragte er. «Was zu trinken oder so?»
«Nein danke», sagte ich genau in dem Moment, als ein dumpfer Schlag zu hören war. Als ich mich umdrehte, sah ich ihn zu einem zweiten Schlag gegen einen Boxsack ausholen, der quietschend an einem langen Seil hin und her schaukelte, einem
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