Bonita Avenue (German Edition)
dem Sozialkaufhaus.
«Die Römer», antwortete er.
Mir entging, dass er einen Scherz machte, so angespannt war ich. Ich erinnerte mich kaum noch an das, worüber wir in der ersten halben Stunde geredet hatten, oder vielmehr: worüber ich geredet hatte, nervös, zu schnell, wahllos durcheinander, wie eine aufgedrehte Spielzeugmaus. Wilbert ließ seine Fingerknöchel knacken, stellte dann und wann eine Frage, und während der ganzen Zeit sah ich mich selbst mit seinen Augen. Ich ärgerte mich über meinen kurzen, koketten Rock, mein großkotziger Bericht über mein bevorstehendes Praktikum in Kalifornien widerte mich an. Genauso das Wirtschaftsmagazin, das ich am Hauptbahnhof gekauft hatte, Quote , und nun aus der umgefallenen Bruna-Tüte gerutscht war.
Starr richtete ich den Blick aufs Kreuz, vielleicht aus Verlegenheit, aber auch um das andere Leidensbild nicht sehen zu müssen: Wilberts Gesicht. Was war damit geschehen? Es schien von zwei verschiedenen Menschen zu stammen, die rechte Hälfte, die unversehrte, zeigte einen schlecht rasierten, grimmigen Mann, der inzwischen seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war: dieselbe flächige Fleischigkeit, dieselbe kleine Nase, deren rechter Flügel sich beim Sprechen bewegte. Das Auge war noch immer pechschwarz, jedoch matter und kleiner als früher, was der gräuliche Schatten darunter unterstrich. Ob die gesunde Gesichtshälfte Verbitterung ausstrahlte oder vielleicht sogar Brutalität, fand ich schwer zu beurteilen: Die schreckenerregende linke Hälfte fesselte alle Aufmerksamkeit. Sie sah aus wie geschmolzen, so schief war sie. Die Wange und der Mundwinkel waren eingesunken und gefältelt, als gäbe es darunter keinen Schädel, die blasse Haut hing herab wie ein Gummibeutel. Gewichtsbedingt schlackerte das untere Augenlid, sodass man dessen weißrote Innenseite sehen konnte. Wenn er plinkerte, schloss sich nur sein gutes Auge, das linke klaffte auf, während sich gleichzeitig der Augapfel so drehte, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Alle paar Minuten drohte Sabber aus dem herabhängenden Mundwinkel zu triefen, und dann machte er das schlürfende Geräusch, das ich schon am Telefon gehört hatte.
«Muss man gläubig sein, um hier wohnen zu dürfen?»
«Gerade eben nicht.»
«Gerade eben nicht. Okay.»
Genau wie immer sah er mich abschätzend an, soweit das mit dem Glubschauge möglich war. «Darüber denk ich gelegentlich nach», sagte er, «man fragt sich doch, was die damit eigentlich erreichen wollen. Was sie dazu bringt, sich um Grenzdebile wie uns zu kümmern. Davon wird keiner reich, verstehst du. Ständig muss Geld reingesteckt werden.» Er sah aus, als dächte er nach; ich war erleichtert, dass er weitersprach. «Was sie letztendlich wollen, sind Seelen, denk ich mal. Für die hier bedeutet jede Bekehrung eine Seele mehr. Und wenn sie sowieso schon dabei sind, dann am besten her mit echten Sündern. Du musst wirklich vor Schlechtigkeit verfault sein – sonst kommst du hier nicht rein.»
Obwohl mir auffiel, dass seine sprachliche Ausdrucksfähigkeit schlechter geworden war – was bisher nur Tarzan und Freitag hinbekommen hatten –, stieß mir seine Argumentation nicht auf. Außerdem verfügte er über genug Selbsterkenntnis, um sich einen Grenzdebilen zu nennen, kein schlechtgewählter Ausdruck übrigens, und, wenn auch indirekt, eine verfaulte Kreatur.
«Würdest du gern hierbleiben?»
«Ja. Solange ich’s aushalte. Hier darf man nichts. Nicht rauchen, nicht trinken. Keine Drogen.»
«Ist aber doch schön, dass sie dir so beim Neustart helfen.» Genesis: Deine Brücke in die Gesellschaft – ich hatte, bevor ich in den Zug nach Amsterdam gestiegen war, im Internet nachgesehen: katholische Haftentlassenenhilfe, gab es in zehn Städten. Ausgewählt wurde bereits im Knast, Ex-Knackis kamen hier nur rein, wenn sie «motiviert» waren, ihrem Leben «einen neuen Sinn» zu geben. Klang alles nicht schlecht, fand ich.
«Darum geht’s nicht», polterte Wilbert. «Meine Scheißformulare kann ich selbst ausfüllen. Ich kann wohnen, wo ich will. Ich brauch die nicht, verstehst du, ich benutze nur ihre, wie heißt das noch? Die nennen es … Barmherzigkeit.»
Er gähnte, streckte die Arme über dem Kopf in die Höhe und schob seinen kompakten Brustkorb vor, die ausgewaschene Baumwolle seines T-Shirts war an den Achseln gelblich. Er trug eine gefleckte Armeehose, dazu No-name-Turnschuhe. Sein Körper war aufgedunsen muskulös, zwischen den
Weitere Kostenlose Bücher