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Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Buwalda
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Seil, das an einem Ring an der Decke hing. War nicht vielmehr die schiefe Trieffresse ein Gottes beweis , ein schwaches, beiläufiges Zeichen höherer Gerechtigkeit? Gott hatte bestimmt, dass er wie das Klischee eines Mörders durchs Leben gehen musste. Ich spürte einen an Wut grenzenden Ärger in mir aufsteigen. Wilbert machte ein paar Boxbewegungen, sein Körper schien mir kleiner und fleischiger, auch kräftiger geworden zu sein. Er hielt den ledernen Kadaver fest, öffnete den Reißverschluss und steckte wie ein Tierarzt den Arm hinein. Unter der dunkelblauen Haut sah ich seine Finger wühlen, er verzog einen Mundwinkel, als er ein in Toilettenpapier gewickeltes Päckchen zum Vorschein holte. Er sagte: «Ich möchte aber was», ging zu einem Schränkchen, kniete sich davor hin und nahm einen abgewetzten Kulturbeutel heraus. Nachdem er sich wieder in den Sessel hatte plumpsen lassen, kramte er einen Rasierspiegel und eine Gillette-Rasierklinge aus dem Beutel. Ich beobachtete, wie er ein Tütchen mit weißem Pulver aus dem Toilettenpapier wickelte, ein kleines Häufchen auf den Spiegel schüttete, mit der Klinge kurz und systematisch darauf einhackte und es zu einer dünnen, geraden Linie zusammenschob. Aus seiner Gesäßtasche nahm er einen plattgesessenen Zehnguldenschein, rollte ihn auf und beugte sich mit dem Röhrchen im Nasenloch über den Tisch. Während er mit zweifachem lautem Schnauben das Pulver inhalierte, schaute ich auf sein dünnes schwarzes Haar, das zu einem fettigen Zopf zusammengebunden war. Er ließ sich nach hinten fallen. «Selber kochen», sagte er, «das lernt man hier auch.»
    Ohne dass ich es wollte, brach sich meine Entrüstung nach außen Bahn. «Warum nimmst du den Mist?», hörte ich mich wettern. «Sag mal, Wilbert, warum gehst du immer den Weg des geringsten Widerstands? Warum kokst du jetzt heimlich wieder? Warum tust du verdammt noch mal die Dinge, die du tust – Wilbert .»
    Sein Gesicht erstarrte, seine rechte Augenbraue kroch vor gequältem Erstaunen nach oben. Ich sah, wie sich Aggression in ihm anstaute. Er schloss das rechte Auge und machte Drehbewegungen mit dem Kopf, als ob er einen steifen Nacken hätte. Lockerte seinen kräftigen Knastnacken, sekundenlang. Dann öffnete er sein Auge und sah mich an, schweigend.
    «Erklär du mir erst mal», sagte er dann, «warum du im Gerichtssaal warst. Dreckschlampe. »
     
    Der Startschuss. Es war so weit. Jetzt begann, wovor mein Vater endlos gewarnt, wovor er sich zehn Jahre lang gefürchtet hatte – und ich mich seltsamerweise erst jetzt fürchtete. Ich wurde rot, mein Mund trocknete aus. War ich etwa hierfür auf umknickenden Absätzen quer durchs Land gereist? Warum war ich wie ein Idiot an den Overtoom gekommen? Warum hatte ich nicht abgesagt? Warum hatte ich ihn überhaupt angerufen? Fragen über Fragen. Aber seine saß, ganz zweifellos. Was wollte ich in dem Gerichtssaal ?
    «Die Wahrheit sagen» – so formulierte es mein Vater. «Sag dem Richter einfach die Wahrheit.» Wir saßen uns im ansonsten leeren Bistro der Bastille gegenüber. Mehr verlangte er nicht von mir. Und was war die Wahrheit? Laut meinem Vater war die Wahrheit das, was Vivianne ihrem Freund Maurice erzählt und was Maurice ihm anschließend am Telefon durchgegeben hatte. Und das gab er nun seinerseits an mich weiter, sodass ich es Monate später, so kam es mir vor, einem Anwalt brieflich mitteilen konnte, der es wiederum weiterverarbeitete in … wie nennt man so einen Text? Und alles, ohne die andere Partei auch nur anzuhören. Sag einfach die Wahrheit, genau.
    Es war der Montagnachmittag nach dem nicht gerade lakonischen Anruf von Viviannes lakonischem Freund, mein Vater und ich saßen auf dem Campus an einem Tisch mit roten Papiersets und einer altmodischen dicken weißen Tischdecke, die eher an ein chinesisches als ein französisches Restaurant denken ließ. Er hatte in der Schule angerufen, der Professor-Sigerius-Effekt: Der Konrektor erwartete mich strahlend an der Tür des Chemiesaals. Mein Vater war schon da, als ich, vom Radfahren und der verwinkelten Steintreppe verschwitzt, das Bistro betrat – am Fenster, fünfzehn Meter vom Ober entfernt, er strich sich durch den schwarzen Vollbart, den er damals noch trug. Erst im letzten Moment bemerkte er mich.
    «Nimm Platz», sagte er förmlich und zerstreut, als wäre ich nicht seine Tochter, sondern eine seiner Doktorandinnen. Neben einer Untertasse mit Tubantia-Logo stand eine leere Kaffeetasse auf

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