Bonita Avenue (German Edition)
dicken Oberschenkeln wölbte sich ein harter, runder Bauch, eine Mitgift seines Vaters. Zwischen uns stand ein staubiger Rattancouchtisch, auf dem außer vertrockneten Mandarinenschalen und einer Illustrierten ein seltsamer Gegenstand lag: zwei kurze Stöcke, Griffe eigentlich, die durch eine etwa fünf Zentimeter lange Kette verbunden waren. «Was ist das?», fragte ich und deutete nickend darauf hin.
Während der ganzen Fahrt von Enschede nach Amsterdam hatte ich mich gefragt, was genau ich zu Wilbert sagen sollte. Worüber mit jemandem reden, den man unter Eid fälschlich beschuldigt hat? Inzwischen waren fast zehn Jahre vergangen, zehn Jahre hatte ich Zeit zum Nachdenken gehabt, und mir fiel nichts Besseres ein als das?
«Karatestöcke. Der Punkt ist doch, dass die hier anders sind. Gläubige sind uneigennützig. Jacob zum Beispiel, das ist einer, der total uneigennützig ist.»
«Jacob?»
«Mein Mentor. Der steht jeden Morgen um sechs auf.» Er sah mich an. Wollte er, dass es mir vor Bewunderung die Sprache verschlug? «Dann fährt er mit dem Fahrrad von Watergraafsmeer hierhin, setzt sich in die Küche und wartet auf den Bäcker und die Jungs vom Supermarkt. Jeden Morgen, verstehst du. Er stellt das Brot hin, die Milch, die Äpfel und die Bananen, trinkt Kaffee. Dann erst frühstückt er. Einen halben Pfefferkuchen mit Butter.»
Ich nickte.
«Den Rest des Tages verbringt er damit, irgendwelchen Scheiß zu regeln. Den Scheiß von anderen. Heute Morgen standen zwei Jugoslawen in der Eingangshalle, die wollten kurz was mit einem Bewohner klären. Der aber hatte schon Lunte gerochen und war aus dem Fenster geklettert, am Fallrohr hoch, rauf aufs Dach. Der lag flach auf den Ziegeln.»
Seltsamerweise sah ich ihn dort liegen, Wilbert, langgestreckt auf dem teehaubenartigen, weit hinabreichenden Dach der anmaßend schönen Stadtvilla, in der wir jetzt gerade saßen, ein Gebäude, das bis in die achtziger Jahre hinein von einer Waldorfschule genutzt worden war. Hohe Klassenräume mit wunderbar verzierten Türrahmen, anthroposophische Sprüche als Einlegearbeit in den gefliesten Wänden, früher einmal gedacht für Kinder aus dem Intellektuellenmilieu. Heute spazierten Typen den Overtoom entlang, die kein Mensch mit Applaus begrüßte.
«Und dann kann Jacob zusehen, wie er die Kerle wieder rauskriegt. Und danach den anderen mit einer Leiter vom Dach runterholt. Und so geht das sechs Tage die Woche, verstehst du. Schon seit zwanzig Jahren. Wenn du ihn fragst, warum er das macht, sagt er: Weil Jesus mich liebt und dich auch. Ein uneigennütziger Mensch. Kriegt das nicht mal bezahlt, verstehst du.»
Letzteres schien mir unsinnig zu sein, ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieser Jacob kein Gehalt bekam, es klang für mich sowieso alles überraschend sentimental, aber, dachte ich, vielleicht war er ja aufrichtig geworden. Ich schaute auf das Kruzifix. War er möglicherweise noch immer gläubig? Früher einmal waren wir alle zusammen nach Drenthe gefahren, er und wir vier, ein Kurzurlaub zu Beginn des Jahres, in dem er bei uns im Bauernhaus wohnte, wir hatten ein Häuschen des staatlichen Forstamtes gemietet, vermutlich um uns ein bisschen aneinander zu gewöhnen. Da saßen wir also in diesem Forsthaus um einen Tisch herum, der so wackelte, dass meine Mutter ihn umdrehte und mit dem Brotmesser ein Scheibchen von einem Tischbein absägte, zu Wilberts großem Erstaunen natürlich, der geglaubt hatte, Mütter könnten einzig und allein Kartons mit Aldi-Wein aufreißen. Weil es die ganze Zeit nur regnete, spielten wir Risiko, Monopoly und auch Trivial Pursuit, zum Ärger von Wilbert, denn selbst Janis wusste mehr als er. Während dieser Zeit zeigte sich zum ersten Mal sein religiöses Naturell oder was man dafür halten konnte: Es kam eine Frage zum Hinduismus oder Buddhismus, und Wilbert erklärte feierlich, dass es zwischen Himmel und Erde irgendetwas geben müsse, er glaube sehr wohl an einen Gott, die Seele seiner Mutter müsse doch irgendwo sein, oder? Woraufhin Siem den Versuch unternahm, ihn freundlich zu unterbrechen – tatsächlich aber packte er die Gelegenheit beim Schopf; unser Hausatheist setzte alles daran, um Wilbert davon zu überzeugen, dass es kein Jenseits geben konnte , wobei er hemmungslos mit Studien von Wissenschaftlern um sich schmiss, die er «persönlich kannte» – was für Wilbert ein rotes Tuch war. «Besserwisser», sagte er knallhart, mehr nicht. Wenn ich mich recht erinnere, machten
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