Bonita Avenue (German Edition)
Boden; wenn er die Wange auf die verbundene Schulter legt, kann er darunter hindurchsehen, und wenn er sich ein wenig auf die Seite dreht und sein Kinn tiefer in die Haut presst, sieht er sogar Aarons Haus. In der Ferne erkennt er die Sträucher vor dem Gartenweg und den oberen Rand der Eingangstür. Belastet von bleiernem Bedauern, guckt er da eine Weile hin. Allmählich wird er gelassener, Gedankengänge nehmen Formen an. Wie groß war dieser Zufall?, fragt er sich. Die Chance, so ertappt zu werden? Ertappt im unseligsten Moment seines Lebens. Die Modulationen des Schicksals: Meistens ist der Zufall kleiner, als man meinen würde, wahrscheinlich spielt die Fußballbegegnung, für die er den Göttern noch vor kurzem gedankt hat, eine Rolle bei seinem Untergang. Zweifellos. Ohne Fußballalibi wäre er nicht unbedingt heute Abend hierhingekommen, nicht exakt zu dieser Zeit – und wie er die beiden kennt, gilt das auch für sie. Sie sind so gefahren, dass sie pünktlich zum Spiel gekommen sind. Gleich beim Reinkommen wurde der Fernseher eingeschaltet.
Sowohl über ihm als auch neben ihm bricht erneut lauter Jubel aus. Obwohl er sich auf dem Balkon relativ sicher fühlt – er empfindet ein rudimentäres Gefühl der Geborgenheit –, sehnt er sich nach der Dunkelheit. Seine jüngste Schwester hat heute Geburtstag. Am längsten Tag des Jahres. Gedanken hinsichtlich der Folgen – was bedeutet es für ihn und Joni, für die Familie? – versucht er auf später zu verschieben. Ich habe am längsten Geburtstag, sagte Ankie immer. Den hinfälligen Körper irgendwie ins eigene Bett schaffen.
Aber die Zeit auf diesem fremden Balkon gerinnt, die Ereignisse wiederholen sich wie Fernsehbilder, unverändert scharf, nicht zum ersten Mal sieht er sich durch die Scheibe krachen. Und immer wieder wird ihm bewusst, was Joni gesehen hat, fragt er sich, wie ernst wohl ihre Schlussfolgerungen sind. Fatal – das sind sie.
Es wird dunkel, endlich. Eine Brise beschert ihm die erste Gänsehaut des Abends. Er bereitet sich darauf vor, seinen malträtierten Körper vom Balkon sacken zu lassen. Um sich zu vermummen, bindet er sich das zweite Geschirrtuch um den Kopf. Welchen Schleichweg er nehmen wird, weiß er, doch seine Geduld wird erneut auf die Probe gestellt: Das Fußballspiel ist zu Ende, dass die Niederlande gewonnen haben, steht außer Zweifel. Menschen strömen auf die Straße. Aus verschiedenen Richtungen hört er Männer aufgeregt reden, eine Autotür fällt laut ins Schloss. Warten, bis auf der Straße wieder Ruhe eingekehrt ist. Aber: Es besteht die Gefahr, dass der Bewohner dieses Apartments sich jetzt irgendwo für die Gastfreundschaft bedankt und gleich aufs Rad steigen wird – schon ist er aufgestanden. Ohne seinen Körper zu spüren, ohne den Beton unter seinen Füßen zu spüren, ohne das Geländer zu berühren, ohne das Gras, auf das er stürzt, zu berühren, landet er vor dem Haus und geht sofort los. Wie eine Ratte krabbelt er davon, hinkt am Bauzaun entlang zur Deurningerstraat, begibt sich ins beschauliche Bürgerviertel.
In seinem Fuß zieht und brennt es, doch der Schmerz wirkt läuternd, so gut er kann, geht er in der rasch tiefer werdenden Dunkelheit weiter. Er nimmt sich vor, im Notfall einfach den Betrunkenen zu spielen. Immer weiter, jeder Schritt ist einer mehr. Radler fahren an ihm vorüber, ohne Notiz von ihm zu nehmen, kein Schwein beachtet ihn. Seine Fußsohle brennt, der Schmerz strahlt inzwischen bis in seinen Unterschenkel aus. Er wählt friedliche Straßen, geht durch die Mendelssohnlaan, vorbei an imposanten Häusern mit zugezogenen Gardinen. Als er die Horstlindelaan erreicht, spürt er eine gewisse Erleichterung. Er setzt sich auf eine Bank, springt aber gleich wieder auf.
Es ist eine merkwürdige Erfahrung, dass die Landschaft so langsam an ihm vorüberzieht, die laue Sommernacht auf seinem exponierten Leib, dieses Gehen verändert die Proportionen von fast allem, der unmittelbare Kontakt seiner Füße mit der Erde, der bröckelige Asphalt, das schwammige Moos auf der Böschung. Die Sternennacht ist vollkommen klar, seine Augen scheinen empfindsamer als sonst, wie ein Nachttier interpretiert er die Umgebung. Er hört eine Marderschnauze unter einem Strauch wühlen, im gelben Licht des Mondes wirken die Farben der Bäume und Äcker kräftiger.
Das ist, verdammt, das zweite Mal. Zum zweiten Mal in seinem Leben wurde er auf frischer Tat ertappt. Und genau wie damals wird sich der Lauf
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