Bonita Avenue (German Edition)
herausstellt, vor Schreck lässt er den Ball fallen, schnappt das weghüpfende Ding und rennt mit hohl klingenden Schritten zur Lasondersingel. Er selbst bleibt stocksteif stehen, erst nach einer Weile atmet er aus, ein stoßweiser Seufzer. Allmählich wird sein Gehör wieder schärfer, irgendwo fährt ein Bus, er hört das Fußballspiel in den Häusern, eine Kommentatorenstimme, Zuschauer. Gott segne den Fußball. Sorg dafür, dass niemand den Weg betritt . Er entspannt sich ein wenig – und erstarrt gleich wieder. Er überschätzt seine Unsichtbarkeit. Die Leute müssen doch nur in ihren Garten gehen. Und was machen Aaron und Joni? Immer noch blutet er wie ein Schwein, lauwarme Rinnsale laufen über seinen Oberarm. Ruhig nachdenken, das wär’s. Er kann so nicht stehen bleiben. Aber was tun? Ein plötzlicher Geräuschschwall treibt ihm den Schweiß aus den Poren. Schreie im Haus, Jubel aus allen Gärten: Die Horden kommen ihn holen. Ein Tor ist gefallen. Er bemerkt, dass er den Strumpf immer noch in der Faust hält, er lässt das Ding los, als wäre es eine Puffotter. Die Zweige sind Tausende von Ameisen. Wo soll er hin? Die Straßen sind leer, leerer werden sie kaum noch werden. Er versucht, seinen Atem zu kontrollieren, verändert die Stellung seiner Füße ein wenig und ruft sich die Vluchtestraat vor sein geistiges Auge. Vielleicht könnte er irgendwo klingeln. Sagen, er sei überfallen worden. Er auf einem Gartenweg in diesem Slip, was für ein Gedanke. Aber er kann ihn unmöglich ausziehen. Alles ist hin . Er ist erniedrigt, sie ist erniedrigt. Stimmt Letzteres überhaupt? Er muss hier weg .
Er überlegt: Die Hälfte der Leute ist in Urlaub. Er stellt sich mit aller Kraft das leere Apartmenthaus am Ende der Straße vor, links das Museum, rechts dieser Wohnblock, dahinter der Bauzaun. Könnte er nicht auf einen der Balkone klettern? Aber auf welchen? Gibt es womöglich eine Faustregel? Wo die Balkontüren geschlossen sind, da sind die Leute verreist. Offen: Fußball. Zu: verreist. Kann er dorthin rennen? Vorsichtig das Terrain sondieren, einen Moment abpassen, und los? In Gedanken versucht er, die Entfernung zu schätzen. Vierzig Meter. Fünfzig. In sechs Sekunden hinübersprinten. Wie kommt er auf so einen Balkon? Einen Augenblick lang denkt er an zu Hause, an die wilde Wiese hinter ihrem Bauernhaus, an die Ruhe, an die Geborgenheit. Es muss stockfinster sein, ehe er nach Hause … gehen kann? Verdammt. Muss er zu Fuß gehen? Das ist ein Traum, das ist der Albtraum aller Albträume . Schleichwege, gibt es die? Alle Langlaufstrecken der letzten zwanzig Jahre entfalten sich gleichzeitig in seinem Kopf, ein Wust von Waldwegen und lockerem Sand. Aber die Stadt liegt dazwischen. Ein Taxi? Du hast nicht mal ein Telefon . Keinen Schlüssel, kein Geld, nichts. Seine Gedanken steuern Tineke an. So kann er ihr nicht unter die Augen treten. Vor Mitternacht kann er nicht einmal nach Hause. Liegt ein Schlüssel bei ihnen im Garten?
Du musst rauf auf einen der Balkone .
Er dreht den Kopf um einhundertachtzig Grad, ein hartes Scheuern auf seinen Augenlidern und Wangen, sein Nacken ist merkwürdig steif. Er legt das Kinn in sein eigenes Blut, schaut über die Schulter auf den Weg und horcht. Auf dieser Seite ist die Welt still. Erneut trifft ihn die Gleichgültigkeit der Dinge: graue Gehsteigplatten, die sein Blut aufnehmen, gleichgültige Außenmauern. Er holt Luft, als wollte er tauchen, und gleitet zwischen den Bäumen hervor. Laufen. Adrenalin wird ins Blut ausgeschüttet, mit ihm an seinen Wunden abgelagert. Die Luft um seine nackte Haut. Alle paar Schritte sieht er sich um, versucht, sein Keuchen zu unterdrücken. Hinter der gemauerten Hauswand: sie .
Die Straße klammert sich an die sinkende Abendsonne. Die plötzliche Weite des Raums überwältigt ihn. Endlos hoch ist der violette Himmel, er empfindet seine Nacktheit noch intensiver. An der Ziegelsteinkante des Nachbarhauses späht er hinüber zum Apartmenthaus, zu den breiten Balkonen – es ist weiter weg, als er gehofft hatte. Vor den Balkonen befinden sich giftig rot gestrichene Brüstungen. Hinter so einer Brüstung möchte er sein. Schräg vor dem Eingang mit den Briefkästen steht ein großer Müllschlucker aus Beton, ein Miniaturbunker für Abfallsäcke. Schon jetzt, von seinem Schützengraben aus, spürt er den warmen Asphalt unter seinen Füßen, die Teerkörner in seiner offenen Sohle. Ein Auto schiebt sich in die Straße, aufstöhnend eilt er
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