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Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Buwalda
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zurück in den Weg. Mit angehaltenem Atem wartet er, bis der sich vortastende Wagen vorbei ist. So nah bei ihrer Haustür. Die Straße ist leer.
    Jetzt.
    Zuerst der Bürgersteig, dann mit fünf langen Schritten diagonal über den Asphalt, nicht mehr auf- oder umschauen, das Apartmenthaus wird größer, wirft seinen Schatten. Wie ein Pavian springt er an dem massiven, breiten Container hoch, obendrauf metallene Deckel, unter denen gärende Müllsäcke hervorquellen – nicht denken, handeln. Warum sieht er sich die ganze Zeit selbst? Ein nackter Mann steigt über die klaffenden Deckel, krallt seine Zehen um den Rand des grobkörnigen Betons. Er peilt den Höhenunterschied: Anderthalb Meter trennen ihn vom Geländer des nächstgelegenen Balkons. Wenn er danebengreift, landet er im Vorgarten der Erdgeschosswohnung. Er fliegt bereits, er ist ein Affe, der fliegt! Er wird Lärm verursachen. Die sehen Fußball. Seine Knie prallen gegen die mit Mennige gestrichene Brüstung, seine Finger packen zu, eine Hand rutscht ab, die andere umklammert den Rand. Sein Körper sackt abwärts, zieht sich in die Länge. Sein Gewicht zerrt an den Fingern seiner rechten Hand, es fühlt sich an, als risse seine Schulter noch weiter auf, als glitschte sein Skelett unter der Haut hervor, mit der zweiten Hand packt er das Geländer. Einen Moment lang hängt er vollkommen ruhig, die warme Brüstung an seinem Bauch. Ungeachtet der Schmerzen, sieht er sich selbst dort hängen, der Ekel verleiht ihm Kraft. Unzählige Male hing er an einer Reckstange, turnte am Barren und am Pferd: Er war der beste Turner von allen, besser als Snijders, besser als Geesink – doch das ist vierzig Jahre her. Mit letzter Kraft zieht er sich aufwärts, bis er im Stütz ist. Die Balkontür ist zu, in der Wohnung ist es dunkel. Er schwingt das linke Bein aufs Geländer, wuchtet den Körper darüber und landet auf kühlem Beton. Er kauert sich hinter die Brüstung.
    So bleibt er eine Weile hocken, keuchend wie nach einem Kampf, die unverletzte Schulter an der Brüstung, er starrt auf seine Zehen. Abwarten. Wenn doch jemand zu Hause ist, dann hat man ihn gehört – ist jemand in der Wohnung, wird gleich eine Tür aufgehen. Er wartet. Seine Atmung wird regelmäßiger, von den Balkonen über und neben ihm dringen beruhigende Fußballgeräusche an sein Ohr. Ist er gesehen worden? Auf der Straße? Gut möglich, dass die Polizei schon unterwegs ist. Die rechte Schulter blutet wieder heftig, da sind schon Tropfen auf dem Beton. Er setzt sich auf den Hintern und inspiziert die Fußsohle. Im Ballen, schräg unterhalb von seinem großen Zeh, ist ein sternförmiges Loch. Es ist das kurze Bein, das Gefühl im Fuß ist nach dem Motorrollerunfall nie wieder ganz zurückgekehrt. Das bedauert er jetzt nicht. Er zieht einen Splitter heraus. Neues Blut quillt augenblicklich hervor.
    Allmählich glaubt er, dass niemand in der Wohnung ist. Er schaut sich genauer um: Der Balkon ist gut einen Meter tief und genauso breit wie die Wohnung. Rechts von ihm befindet sich eine dunkelrote Tür. Wenn er sich hinhockt, kann er gerade mal so ins Wohnzimmer sehen: eine grün-weiß karierte Couch gegenüber von einem alten, voluminösen Fernseher; weiter hinten im Zimmer ein aufgeklapptes Bügelbrett, dahinter eine kleine Küche. Ein Studentenapartment? Er fragt sich, was schlimmer wäre: ein Student, der ihn erkennt, oder irgendein Einwohner von Enschede, der auf einen gefährlichen Irren trifft.
    Auf dem Balkon stehen zwei Plastikstühle, daneben drei geöffnete Grolsch-Flaschen mit Bügelverschluss, in der hintersten Ecke Kartons mit Altpapier. Gegenüber von den Kartons hängt an eisernen Haken ein gelbes Wäschegestell am Geländer: Kleidung . An einem Stuhl vorbei kriecht er auf Knien hin. Zwei Geschirrtücher, ein Handtuch, ein Paar schwarz-rosa gestreifte Damensocken, eine halblange Herrenbadehose. Er windet sich aus dem Slip und zieht im Sitzen die Badehose an. Eine Woge des Wohlbehagens und der Erleichterung durchströmt ihn. Den Slip stopft er in eine der Gesäßtaschen. Das trockenere der beiden Geschirrtücher breitet er über den Schnitt in der Schulter und verknotet die Enden mit viel Gefummel unter der Achsel. Weil er keine Wahl hat, zwängt er seine Füße in die steifgewaschenen Socken.
    Danach streckt er sich der Länge nach auf dem Rücken aus. Der Beton stützt seinen erschöpften Körper. Vielleicht eine halbe Stunde lang liegt er so da. Die Brüstung reicht nicht ganz bis zum

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