Bonita Avenue (German Edition)
Küchenkrepp, leere Milchtüten, Reklame, aufgerissene Briefumschläge, angebissene Butterbrote, halbverfaultes Obst, Plastiktüten in allen Größen, zahllose Pizzakartons: die abgeknabberten Teigränder, die daraus hervorragten, auf allen derselbe rot-grüne Cartoon eines grinsenden Pizzabäckers. Aber auch die Möbel waren bedeckt von irgendwelchem Müll, als ob es Gerümpel geregnet hätte. Hier und da waren mit Filzstift Texte auf die Tapete gekritzelt worden; ich machte mir nicht die Mühe, sie zu entziffern. Auf dem Zweisitzer lag ein teilweise verkohlter Zaunpfahl. Die Bücherregale, früher einmal sein ganzer Stolz, sahen aus, als wäre ihr Inhalt planlos herausgezogen worden, überall lagen Bücher, Hunderte, viele zerfetzt oder mit gebrochenem Rücken, platt auf dem Boden. Sie sahen nicht gelesen aus, er hatte sie gemeuchelt, gekillt. Der Aaron von früher hatte beim Lesen von Büchern am liebsten weiße Handschuhe angezogen, jetzt entdeckte ich im gusseisernen Allesbrenner einen Stapel verkohlter, halb zu Asche zerfallener Klötze – Bücher .
Diese Art von Verwahrlosung kannte ich nur aus dem Fernsehen, aus voyeuristischen Sendungen über Leute ohne zwischenmenschliche Beziehungen, doch was ich bisher nicht einmal im Fernsehen gesehen hatte, war der Meerschweinchenkot. Der schlug alles. Kötel, Tausende von leicht gekrümmten Köteln, alle exakt gleich groß, wie riesige Schokoladenstreusel in den Zimmerecken, entlang der Fußleisten und um die Tischbeine herum, auf dem Trampelpfad in die Diele und in die Küche zu braunschwarzem Schlamm zertreten. Die Meerschweinchen sah ich nicht – ebenso wenig Aaron. Er war verschwunden.
Ich ging in die Diele und setzte einen Fuß auf die unterste Treppenstufe. Kurz bevor ich mich nach oben begeben wollte, hörte ich die Dusche, ein nicht unschönes, hoffnungspendendes Geräusch. Wollte er sich frisch machen? War ihm wieder eingefallen, wer ich bin und weshalb ich gekommen war? Die so gewonnene Zeit konnte ich jedenfalls gut darauf verwenden, die Autoschlüssel zu suchen. Inmitten dieses Schweinestalls hatte ich nur eine Chance: Meine Augen hielten nach der Kakaodose Ausschau, in der ich sie, auf dem gemauerten Kaminsims, früher immer aufbewahrt hatte. Um bessere Sicht zu haben, zog ich die Vorhänge auf der Straßenseite zurück. Die Scheibe war voller schmieriger roter Flecken, die ich von außen bereits vage gesehen hatte, doch jetzt wich ich aufstöhnend zurück. Auf der Fensterbank lag ein haariger, blutiger Kadaver. Es war das schwarze der beiden Meerschweinchen, das sah ich sofort – enthauptet oder, besser gesagt, skalpiert und der Länge nach aufgeschlitzt. Ich holte tief Luft – durch den Mund: der Gestank in diesem Loch, das kleine Tier – und versuchte mit aller Kraft, mich nicht zu übergeben.
Schockiert wandte ich mich wieder zum Kaminsims und starrte auf die leeren Schachteln von Take-away-Mahlzeiten und auf den anderen Müll, der dort lag. Zugleich wurde ich von einem tiefen Mitleid übermannt und von mindestens ebenso heftigen Schuldgefühlen: Wie sehr war ich doch mit mir selbst beschäftigt gewesen, während dieses halben Jahrs in Kalifornien, und wie beschämenswert selten hatte ich mich gefragt, wie es ihm wohl ging. Der kommt schon klar, hatte ich gedacht. Er hat doch Geld?
Als ich mich wieder einigermaßen gefasst hatte, fand ich die Kakaodose und fischte einen verschlossenen Umschlag heraus – es war der Umschlag, den ich selbst vor Monaten in seinen Briefkasten geworfen hatte, die Schlüssel waren noch darin. Mir schoss durch den Kopf, dass der Alfa von ihm ein halbes Jahr lang nicht benutzt worden war. Ich steckte den Umschlag in die Innentasche meiner Winterjacke und betrat die Diele. Er stand immer noch unter der Dusche. Er musste mit.
Mir selbst Mut zusprechend, ging ich hinauf und blieb auf dem mit Kleidung und Handtüchern übersäten Treppenpodest stehen. «Ich bin’s wieder», rief ich und klopfte nicht allzu fest an die Tür zur Dusche. Keine Antwort, und nach einer Weile wurde mir bewusst, dass der Duschstrahl monoton und kräftig klang, zu kräftig und zu monoton – als würde niemand drunterstehen. Ich öffnete die Tür, Wasserdampf wölkte auf den Flur, dann ging ich hinein. Auf dem gefliesten Boden, inmitten von haarigem, unbeschreiblichem Schmutz, sah ich das Zellophan und das goldene Band der Christbaumkugel liegen. Der Duschvorhang war dreckig, aber transparent; unter der Dusche stand niemand. Ich zog den
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