Bonita Avenue (German Edition)
Studenten, ausländischen Postdocs und angehenden Unternehmensberatern bewohnte ich eine Art Studentenpueblo in den Wäldern zwischen dem Stanford-Campus und dem Gewerbegebiet, in dem McKinsey sein Büro hatte. Im obersten Wohngeschoss teilte ich mir ein Apartment mit zwei nicht besonders entgegenkommenden Französinnen, die mir ein quadratisches Zimmer zugewiesen hatten, das auf drei Seiten Aussicht auf hohe, spitze Nadelbäume bot. Während der ersten Wochen in Kalifornien fühlte ich mich einsam und niedergeschlagen, ich vermisste Enschede, ich vermisste Aaron, ich vermisste meinen Vater. Jetzt, da ich allein war, bekamen Schuldgefühle einen Fuß in die Tür. War nicht alles durch mein Zutun so aus dem Ruder gelaufen? War es nicht mein geldgeiler Exhibitionismus gewesen, der uns drei, einen Verbund, der so kompakt war wie ein Wassermolekül, auseinandergetrieben hatte? Zu oft, meinem Gefühl nach, sah ich Siem durch die Glasscheibe gehen, zu tief war mir bewusst, was da alles in Scherben zerfallen war – doch zugleich war ich auch wie befreit, die neuen Eindrücke auf der anderen Seite der Erde vertrieben die schwermütigsten Gedanken an Enschede, lenkten mich ab von der Unumkehrbarkeit der Dinge und ihrer Unlösbarkeit. Unter der Woche arbeitete ich jeden Tag lange, am Wochenende nahmen Kollegen mich ins Schlepptau und fuhren mit mir nach San Francisco, wo wir tagsüber am Strand lagen und nachts die Clubs besuchten. Es ist gut, richtig gut, dass du in Kalifornien bist – gerade als ich das zu denken begann und es mir manchmal auch laut vorsagte, merkte ich, dass ich schwanger war.
Wie das vonstattenging, «prosaisch» zu nennen, beschönigt es sogar. Ich nahm als jüngste Angestellte an einer Telefonkonferenz eines McKinsey-Teams teil, das den Abschlussbericht für einen asiatischen Klienten Seite für Seite durchging, und mir war speiübel, und das Jucken meiner Brüste machte mich fast verrückt. Nicht kratzen, nicht kratzen, wenn mich jemand etwas gefragt hätte, hätte ich geantwortet: «Nicht kratzen», aber keiner wollte etwas von mir wissen, sodass ich Zeit hatte, den Zusammenhang zwischen dem Jucken, dem Ausbleiben meiner Regel und dem herzustellen, was ich in dem ganzen Durcheinander tatsächlich vergessen zu haben schien: Auf Korsika hatten Aaron und ich ein paarmal ungeschützten Sex.
Leichenblass war ich aufgestanden, der associate principal , der den Hexenrat leitete, fragte, ob ich «okay» sei oder ob ein Arzt gerufen werden müsse. Ein Abtreibungsarzt, dachte ich, ging aber mit einer Hand vor dem Mund aus dem Konferenzraum hinaus, nahm den gläsernen Aufzug nach unten, nickte der Dame am Empfang schwach zu und begab mich auf kürzestem Weg zu einer Drogerie am Palo Alto Square, wo ich zwei verschiedene Schwangerschaftstests kaufte, die ich dann auf der Toilette des Pueblo nacheinander vollpisste. Dicke rosafarbene Streifen. Bis meine Beine einschliefen, blieb ich auf dem Klo sitzen. Ich war verdammt noch mal schwanger von Aaron Bever.
Den Rest der Woche verbrachte ich im Bett. Zu krank, um arbeiten zu gehen. Nachts plusterte ich mich schniefend zu einem Zeppelin aus Selbstvorwürfen auf, und wenn ich morgens aus schlammigen Träumen hochschreckte, schwebte da über den Nadelbäumen das pechschwarze Luftschiff, Schatten werfend und kurz davor, in Flammen aufzugehen. Erst gegen Mittag stand ich auf, aß ein wenig und marschierte stundenlang durch die Wälder, wütend, verzweifelt, Pinienzapfen in Stücke stampfend, und wankte in meinem Atheismus: Es kostete mich große Mühe, in dieser erneuten Prüfung nicht die strafende Hand irgendeines Gottes, die Hand von Wilberts Scheißgott zu sehen – ich verfluchte das Stück Holz an seiner Wand und flehte gleichzeitig um eine Fehlgeburt: Lieber Gott, lass es abgehen, bitte, ich will es nicht. Auf Schwangerschaftsforen las ich, was zukünftige Mütter auf keinen Fall tun sollten, und folglich machte ich so viele Überstunden wie nur möglich, schlief weniger, als gut war, und trank Alkohol, zu Hause, oben in meinem Zimmer, Wein, Whisky, Wodka. An den Wochenenden aß ich mit den beiden affektierten Französinnen, die in unverständlichem «Pariserisch» miteinander sprachen – vielleicht über meine Kochkünste (jedes Mal schnitten sie das Fleisch, das ich für sie zubereitete, an, runzelten die blassen Näschen, und dann ging eine von ihnen in die Küche, um es durchzubraten), vielleicht auch über meine fortwährende Übelkeit. Ich telefonierte
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