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Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Buwalda
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geben», und er erinnerte mich daran, dass ich Pflichten hatte, nicht nur im Hinblick auf das «Leben», sondern auch gegenüber dem Vater. Bitte? Nein, er meine das ganz ernst, auch wenn Aaron davon nichts wisse, finde er eine Abtreibung, «wie soll ich sagen», verbrecherisch. «Aber ich will nicht mehr zu Aaron zurück», erwiderte ich. «Das ist überhaupt nicht die Frage», schrieb er, «wer sagt denn, dass du zu ihm zurücksollst? Wer sagt, dass er sich darüber freut, ein Kind zu bekommen?»
    Was Aaron unbedingt bekommen musste, war eine Beruhigungstablette. Seine Angst war beängstigend, aber trotzdem gab ich nicht auf: Ich machte Boden gut, streichelte mit langen Bewegungen seine dick eingepackten Oberarme, seine Schultern, und er schien das immer weniger unheimlich zu finden. Auf beiden Nachtschränkchen, in den offenen Schubladen, auf dem Fußboden, eigentlich überall, wo ich hinsah, lagen Tablettenblister und Schnapsflaschen herum, ich nahm sie alle in die Hand, doch sie waren ausnahmslos leer. Nach hitzigem Suchen fand ich in einem der Nachtschränkchen zwei Schlaftabletten. «Hier», sagte ich, «nimm die.» Doch er spuckte sie aus, und erneut fummelte ich die feuchten Kapseln in seinen Mund. Ich setzte eine Flasche Genever, in der noch ein winziger Rest war, an seine vollen Lippen, er schluckte und nahm es hin, dass ich mich an ihn schmiegte. Immer wieder streichelte ich seine Arme, sein Gesicht, seine eingepackte Brust, bis sein Atem langsamer ging und er ruhiger wurde. Und erst da, als auch ich selbst mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, wurde mir klar, wie es sich wirklich verhielt: Er sah es nicht . Selbst wenn ich meinen dick gefütterten Wintermantel und all meine Kleider ausgezogen hätte und, den nackten Sechs-Monate-Bauch vorgestreckt, auf seinen Schoß geklettert wäre, selbst dann hätte Aaron nicht gesehen, dass ich schwanger war, ganz zu schweigen davon, dass er es verstanden hätte.
     
    Es war eine strapaziöse Aufgabe, ihn ein Stockwerk tiefer zu schaffen, er wehrte sich, klemmte sich zwischen Wand und Treppengeländer fest, wobei sein penetranter Körpergeruch Brechreiz in mir auslöste. Vor dem Haus ließ er sich mit den Knien in den Schnee fallen, und während ich versuchte, den Alfa so schnell wie möglich vom Schnee zu befreien, krümmte er sich in Fötushaltung, heulend und wirr vor sich hin plappernd, woraufhin ich, Passanten zulächelnd, geduldig, aber entschieden auf ihn einreden musste, bis er endlich auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
    Obwohl ich noch nie dort gewesen war, fand ich noch vor der früh einsetzenden Dunkelheit das Twentse Tulp in Enschede-Süd, ein in den Wäldern gelegenes psychiatrisches Krankenhaus mit einem turmhohen Weihnachtsbaum im aus Naturstein errichteten Eingangsbereich, wo er, nach langem Reden und Erklären meinerseits, zumindest eine Nacht zur Beobachtung bleiben konnte. Ich stand daneben, als er zahm wie ein Lamm mit einem großen Glas Wasser zwei violette Psychoblocker hinunterspülte; mir war, als löschte ich selbst einen Tage währenden Durst. Erst als man mich danach fragte – «Wer sind die Eltern von Herrn Bever? Ist er berufstätig?» –, begriff ich, wie geschickt er es angestellt hatte, die Gelegenheit zu ergreifen, zu werden, wie er war. Monatelang musste ihn niemand zu Hause besucht haben. Seine Eltern wohnten im tiefsten Limburg und riefen, soweit ich wusste, selten an. Und was seine Arbeit betraf? War das das Los von freien Mitarbeitern? In meinem Handy fand ich die Nummer von Cees und Irma Bever und gab sie der Krankenschwester.
    Ich wollte weg. Ich musste weiter. Als Aaron bei einem der Psychiater im Behandlungszimmer saß, verließ ich so unauffällig wie möglich die Eingangshalle der Anstalt. Ich schaute auf zu den schneebedeckten Eichen und Platanen, zur unendlichen Weite des frostigen Himmels darüber: ein Ort, so fand ich, an dem Irrsinn eine reelle Chance hatte, sich zu verflüchtigen.
    Durch salzigen Matsch fuhr ich Richtung Süden, Mantel zu, Fenster offen, leicht betäubt. Hatte ich das wirklich erlebt? Ich hielt erst in Lüttich wieder an, wo ich mir kurz nach Mitternacht ein möglichst teures Hotelzimmer nahm. Hätte ich vorhersehen können, dass er durchdrehen würde? In meiner Suite gab es tatsächlich so kleine Kissen, die eine schwangere Frau in Seitenlage unter ihren Bauch schieben kann, aber einzuschlafen gelang mir nicht.
     
    Es war, glaube ich, bereits September, als ich es merkte. Zusammen mit

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