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Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Buwalda
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Gruppenfotos hatte er in goldenen Blockbuchstaben den Namen der Schule vermerkt, außerdem die Klassenstufe und die Jahreszahl, auf den Porträtfotos in geschwungenen Lettern die Namen der Kinder. Einer Juliette Jalabert war er dabei nicht begegnet. Er schloss das Programm, ohne die Änderungen zu speichern, und biss sich auf die Unterlippe.
     
    Nach seinem bestürzenden Wiedersehen mit Jonis Mutter war er wie betäubt in den Nahverkehrszug nach Linkebeek gestiegen, Opfer eines Gemengsels aus Trauer und Empörung. Die Nachricht von Sigerius’ Tod, so überholt sie auch sein mochte, hatte ihn schwer getroffen, während der Heimfahrt waren seine Beine die ganze Zeit schwer wie Blei und fühlte sich sein Rumpf merkwürdig leer an. Was war passiert? Warum, verdammt, wusste er von nichts?
    Weil er ein Leben führte, in dem er selten zornig wurde, hatte er den Zorn, der ganz allmählich Besitz von ihm ergriff, nicht sogleich mit seiner Krankheit in Verbindung gebracht; statt die Treppe hinauf ins Badezimmer zu rennen und einen Blister Seroquel aus dem Medizinschrank zu nehmen, ging er in die Küche und machte auf dem Induktionsherd eine Dose chinesische Tomatensuppe warm – ein Fehler. Danach war er, vor Wut mit den Zähnen klappernd, die zwei Wendeltreppen hinauf in den ausgebauten Dachstuhl gestiegen und hatte sich der Länge nach aufs ungemachte Bett fallen lassen. Wie konnte der Mann seit sieben Jahren tot sein, ohne dass er irgendetwas davon mitbekommen hatte? Die ganze Nacht wälzte er sich im Bett herum, während der dunkelsten Stunden starrte er in die Mitra aus leise knarrenden Balken über seinem erhitzten Hirn. Anfang 2001 sei Sigerius bestattet worden, hatte Tineke gesagt. Oh, er wusste nur zu gut, wie der Hase lief: Sigerius musste in den drei Wochen gestorben sein, in denen er selbst aus der Welt gewesen war. Von Ende Dezember 2000 bis irgendwann im Juni 2001 war er in der geschlossenen Abteilung des Twentse Tulp gewesen, eines psychiatrischen Krankenhauses am Rande von Enschede, gut ein halbes Jahr lang und davon die ersten drei Wochen in einem Isolierzimmer. Genau in der Zeit, als sein Leben am absoluten Nullpunkt angekommen war, musste die Nachricht von Sigerius’ Tod sich in den Niederlanden verbreitet haben.
    Gleich nachdem er ins Tulp eingeliefert worden war, hatten sie ihn zum Runterkommen in eines der Beton-«Séparées» gesteckt, wie man dort diesen Stall ohne Stroh zu nennen wagte. Darin lag eine unbezogene graue Kunststoffmatratze, und es gab einen Nachttopf aus rostfreiem Stahl. An einer der kalten schalldichten Wände hing eine Tafel mit weißer Schulkreide. Es drang nichts herein, und es drang nichts hinaus. Nur mit einem Jutehemd und einer Papierunterhose bekleidet, hatte er sich die Lunge aus dem Leib geschrien – und währenddessen hatte man Sigerius begraben?
    Die Ironie an dem Ganzen war, dass er sich in seiner Zelle, abgeschnitten vom Tagesgeschehen, vom Wetterbericht, von sich selbst, als Seher empfunden hatte. Die Myriaden von Luftbläschen im Zellenbeton umgaben ihn wie ein kosmischer Nebel. Wenn er auf seiner Plastikstulle lag und tief einatmete, dann schrumpfte der Raum, und die Sterne stachen ihm wie Nadeln in die Haut. Das Weltall war seine Lunge, er bestimmte über Raum und Zeit, ob Mikro- oder Makrokosmos, er ergründete alles in großem Stil. Bis auf die Picosekunde genau wusste er, wann und auf welchem Längen- und Breitengrad seine Eltern ihn gezeugt hatten, aber auch die exakte Kausalität dieser Untat ergründete er, die Milliarden von Jahren lange Kette von Ereignissen, die mit dem Urknall bombenfest verbunden war. Er wusste alles .
    Von wegen, nichts wusste er. Selbst als er den Kubus des Wahnsinns verlassen durfte, hatte man ihn unwissend gelassen. Warum?
    Die Nachmittagssonne fiel auf den Holzfußboden aus amerikanischer Kiefer, der sich über sein Arbeitszimmer erstreckte wie eine seit Tagen nicht gefegte Eisbahn. Das Fenster oberhalb von seinem Schreibtisch stand offen, ein Windstoß lupfte einen Umschlag vom Finanzamt. Es war sonnig, aber kühl. Er versuchte, ein Buch zu lesen, hörte sich, ausgestreckt auf dem Fußboden liegend, eine Platte von Monk an und döste ein. Als er aufwachte, gerädert und benommen, ging er zu seinem Schreibtisch und öffnete zum soundsovielten Mal sein E-Mail-Programm. Ein schneeweißes Taubenpaar flatterte durch sein Zimmer: Sie hatte gemailt . Ihr Name in fetten schwarzen Buchstaben auf seinem Bildschirm, es war ein schockierender

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