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Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Buwalda
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arbeiten; sich eine pensionierte Elisabeth Haitink vorzustellen, endlich von der Klinik mit all ihren Verrückten und Gestörten erlöst, verschaffte ihm eine stellvertretende Erleichterung. Schlank, zerbrechlich, betont weiblich in schurwollenen Kostümen und vornehmen Kleidern aus feinem Chiffon und aus Satin – man hätte ihr etwas Fröhlicheres gewünscht als Typen, wie er einer war, die Chefredaktion einer Modezeitschrift an einer Amsterdamer Gracht zum Beispiel, aber davon wollte sie nichts wissen. Sie liebte ihre Arbeit, und sie fand sie wichtig.
    Jeden Dienstag- und Donnerstagmorgen holte sie ihn in seinem Zimmer mit Aussicht auf die reglosen Akazien und Ulmen im weitläufigen Anstaltsgarten ab – angelegte, künstliche, demonstrative Natur, um ihm vor Augen zu halten, dass in seinem Kopf Chaos herrschte und er so werden musste wie dieser Park, obwohl er sehr wohl wusste, dass die Natur eigentlich ein wildgewordener Termitenbau war, in dem die Schnauze eines Ameisenbären steckte –, und dann folgte er wie ein Pudel ihrer fragilen Gestalt, über die Galerie, durch den mit Riesentulpen bemalten Gemeinschaftsraum, bevor sie sich in einer kleinen Küche beide einen Becher entkoffeinierten Kaffee eingossen, um dann, er vorweg, das Milchpulver einrührend, die Treppe hinauf zu den Mitarbeiterbüros zu gehen, wo sie am Ende eines kahlen Flurs ihr spezielles Behandlungszimmer hatte. Ungefähr fünfzig intensive Stunden lang horchte sie ihn unter einem stillstehenden Deckenventilator aus Messing aus, sie besaß die Fähigkeit, prekäre Fragen anzuschneiden, als hälfe sie einem durch eine eiskalte Brandung hindurch, und jetzt, wo er darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass es in den allermeisten Gesprächen um Sigerius gegangen war. Mit dem nicht unwichtigen Unterschied, dass er von einem Lebenden sprach und sie von einem Toten.
    Damals hatte ihn das nicht misstrauisch gemacht, für ihn waren es die üblichen Psychologenfragen. Sie wollte wissen, in welchem Licht er Sigerius sah, sie wollte wissen, was sie gemeinsam unternahmen, sie wollte wissen, wie oft sie zusammen Judo machten und wie so ein Training ablief, sie wollte wissen, wie Joni über diese Freundschaft dachte, ob er über seine Beziehung zu ihr mit ihrem Vater sprach, ob er seinen eigenen Vater gelegentlich mit Sigerius verglich, nicht bewusst, aber möglicherweise unbewusst? Ob sie sich schon mal stritten, ob er auch Freunde in seinem Alter hatte, ob die Freundschaft in seinen Augen gleichberechtigt war und so weiter und so weiter. Nie war Haitinks Interesse an seiner Faszination für diesen Mann erschöpft, kein Detail langweilte sie, und nie war er um Antworten verlegen. Erst jetzt ging ihm auf, wie geradewegs sie auf ihr Ziel zugesteuert war. Vom allerersten Tag an hatte Haitink die Vermutung, dass sich hinter der Glasur seiner Sigerius-Verehrung ein Anflug von Fäulnis verbarg. Irgendetwas stimmte nicht. Er lenkte ihre Aufmerksamkeit von etwas Wesentlichem ab, indem er sie mit Worten der Bewunderung für den Mann überhäufte, für den sie beide sich so zu interessieren schienen.
    «Sagen Sie mal, Aaron», sagte sie eines Morgens nicht lange vor dem Durchbruch, «woher kommt eigentlich Ihre grenzenlose Fähigkeit, zu Menschen aufzublicken? Sie sprechen von diesem Sigerius, als wäre er der Dalai-Lama. Blicken Sie etwa manchmal auch zu mir so auf?» Zu dir?, dachte er beleidigt, dich finde ich scharf, aber er sagte nichts. «In wen waren Sie eigentlich verliebt?», fuhr sie fort, eine provozierende Frage, die ihn sogar kränkte und die er nach einem verdatterten Schweigen beantwortete, indem er ihr einen Befehl erteilte: Besorgen Sie sich in der Buchhandlung Broekhuis Prominente der Niederlande und lesen Sie die Seiten über den Dalai-Lama.
    Das Buch war eine Volkskrant -Publikation, die damals bereits seit einem Jahr im Handel war. Haitink nickte, sie kannte es dem Namen nach, eine Sammlung von Porträts der einhundert verdienstvollsten Niederländer im zwanzigsten Jahrhundert. In der Woche darauf hatte sie das Buch tatsächlich dabei, noch eingeschlagen in das braune Broekhuis-Papier, und während er ihr dabei zusah, vertiefte sie sich in die Seiten, auf denen Siem Sigerius und dessen mathematische Leistungen besungen wurden, ein Kapitel, das zwischen Hymnen auf den etwas älteren Ruud Lubbers und den etwas jüngeren Kabarettisten Freek de Jonge stand. Es handelte sich um einen verständlich geschriebenen Beitrag, in dem der zuständige

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