Bony und die weiße Wilde
von größter Wichtigkeit. Es war jetzt sechs Uhr, und um diese Zeit wurde auf der Lagunenfarm gegessen. Es schien also unwahrscheinlich, daß Sadie um diese Stunde hier auftauchen würde. Bony stimmte deshalb zu, ließ aber Lew auch weiterhin den Pfad im Auge behalten.
Er füllte inzwischen ein wenig Petroleum auf den Kocher und holte aus einer Rinne des überhängenden Felsens etwas Regenwasser. Und als schließlich die große Felsbarriere und die See langsam von der Dämmerung verschluckt wurden, kauten die beiden Kekse und tranken Tee mit viel Zucker.
Trotz des sich immer mehr steigernden Sturmes entschloß Bony sich, auch während der Nacht Wache zu halten. Schließlich hatte kürzlich Sadie oder ein anderer diese Höhle in der Dunkelheit aufgesucht. Als Lew immer schweigsamer wurde und zu gähnen begann, erklärte Bony, die erste Wache selbst zu übernehmen. Lew könne also sechs Stunden schlafen.
In der Höhle herrschte jetzt völlige Dunkelheit. Bony saß am Eingang und lauschte dem immer mehr anschwellenden Toben der See und dem Tosen des Sturmes. Er rechnete nicht damit, daß sich in dieser Nacht noch etwas ereignen würde, aber als es dann doch geschah, atmete er erleichtert auf, weil damit das zermürbende Warten ein Ende hatte.
Der Schein einer Taschenlampe flackerte die Kliffwand entlang, während jemand vorsichtig den gefährlichen Pfad herunterkam - doppelt gefährlich durch Dunkelheit und Sturm. Bony benützte seine eigene Taschenlampe, glitt rasch in die Höhle zurück und weckte Lew.
»Es kommt jemand. Keinerlei Geräusch machen, nur vorsichtig atmen. Egal, was Sie sehen, verhalten Sie sich ruhig. Vielleicht ist damit unsere Aufgabe beendet.«
Lew erwiderte nichts, sondern kniete stumm neben Bony hinter den Steinbrocken an der Rückwand der Höhle.
Zwei Minuten später huschte ein Lichtstrahl in den Eingang. Dann drang eine leise Melodie an ihr Ohr. Der Unbekannte summte >Vorwärts, ihr Streiter Christi<. Jetzt wurde der nächtliche Besucher sichtbar. Der Lichtschein seiner Taschenlampe reflektierte sich an dem regennassen Ölmantel, den er trug.
Die Gestalt, die geradezu riesig wirkte, näherte sich der Truhe. Die Taschenlampe wurde niedergestellt, dann nahm der Unbekannte die Karbidlampe von der Wand, und als er Luft nachgepumpt hatte, enthüllte das gleißende Licht Sadie Stark.
Die beiden Männer beobachteten, wie sie die Lampe wieder an die Wand hängte, die Taschenlampe auslöschte und Südwester und Ölhaut auszog. Sie trug Männerkleidung, und wenn manches Bühnenbild notwendigerweise Männerkleider verlangt, so diese nächtliche Szene ebenfalls. Sie nahm aus ihrem Umhängebeutel ein Ledernecessaire und ein Buch, das aussah wie eine Bibel oder ein Gebetbuch. Minuten lang saß sie auf der Truhe in einer Pose völliger Gelöstheit.
Schließlich kniete sie vor der Truhe nieder und entnahm dem Necessaire eine elfenbeinerne Haarbürste, einen Handspiegel und einen Kamm. Sie begann ihr Haar zu lösen und zu bürsten. Im Lampenlicht schimmerte es kastanienbraun. Dabei summte sie Marvins Hymne, und es klang fast, als empfände sie eine innere Freude dabei.
Eine Frau beim Kämmen und Auflegen von Rouge zu beobachten, war weder für Bony noch für Lew eine neue Erfahrung, aber hier erlebten sie die Verwandlung eines Menschen in ein völlig anderes Geschöpf. Das lange, wallende Haar, ein wenig Puder, Lippenstift und Rouge - und Sadie Stark war wieder zu einem jungen Mädchen geworden. Diese Verwandlung geschah mit einem solchen Geschick und mit einer solchen Schnelligkeit, daß man annehmen mußte, sie habe dies schon seit Jahren geübt.
Die beiden Beobachter starrten wie gebannt zu der jungen Frau hinüber, die sich jetzt ihrer Männerkleidung entledigte. Erneut betrachtete sie sich im Spiegel, und es dauerte einige Minuten, bis sie zufrieden zu sein schien und die Toilettenartikel von der Truhe nahm, um den Deckel zu öffnen.
Zunächst aber holte sie noch aus der Umhängetasche ein Paar Nylonstrümpfe, die sie sich, auf der Kante der Truhe sitzend, anzog. Dann nahm sie die roten Sandaletten und streifte sie über. Als nächstes kam das weiße Kleid mit den roten Punkten an die Reihe. Sie strich es sorgsam an ihrem Körper glatt - und vor den beiden Männern stand das junge Mädchen von damals, das sich zusammen mit seinen Kindheitsgefährten am Tage des Kricketmatches hatte fotografieren lassen.
Als die Zeremonie des Ankleidens beendet war, umspielte ein spöttisches Lächeln Sadies
Weitere Kostenlose Bücher