Bony und die weiße Wilde
Sie mich nicht fragen, Nat.« Der Eingeborene grinste. »Ich bin nur ein alter Neger, der nie zur Schule ging. Aber wie wär’s, wenn ich mir mal die Höhle anschaute, von der ich Ihnen bei unserem ersten Lager erzählte?«
»In Ordnung. Ich werde hier Wache halten.«
»Vielleicht finde ich in dieser Höhle Marvin«, sagte Lew ernsthaft.
»Dann hätten Sie Glück, Lew. Bitten Sie ihn herauf, dann kann er einen Schluck Wasser haben, und wir teilen den Rest des Proviants mit ihm.«
»Keine Angst. Den Marvin können Sie haben. Er wird mich nicht in einen Hinterhalt locken.«
»Sie würden also lieber nach Hause gehen, wie?«
»Ach, ich weiß nicht.« Lew grinste. »Vielleicht ist es besser, hier zu hungern, als zu Hause zu arbeiten.« Und mit keifender Stimme fügte er hinzu: »Geh weg, Lew! Wo bist du wieder gewesen, Lew? Ich habe längst das Essen fertig. Und Holz für den Ofen ist auch keins da. Und kein Krümel Tabak, weil du wieder alles stibitzt hast!«
»Na, so schlimm wird es doch wohl nicht sein!« widersprach Bony lachend. Nach der Nervenanspannung der vergangenen Stunden war er froh über diese humorvolle Einlage. Lew indessen behauptete nachdrücklich, daß es noch viel schlimmer sei. Das Stadtleben habe die Frauen verdorben. Er käme langsam zu der Überzeugung, daß dieses Umherziehen von Lager zu Lager viel schöner sei, auch wenn er Hunger leiden müsse.
»Da Sie also nicht nach Hause und anscheinend auch nicht in Ihre Höhle gehen wollen, um nachzuschauen, ob Marvin sich dort versteckt, dann bleiben Sie hier und behalten Sie den Hügel im Auge«, erklärte Bony. »Inzwischen werde ich noch einmal zur Höhle hinabsteigen und meine Durchsuchung beenden. Und sollten Sie sehen, daß sich der Signalast senkt, dann schauen Sie erst nach unten, ehe Sie den Steinbrocken lospoltern lassen. Ich könnte ihn sonst auf den Kopf bekommen! So - ich werde nicht lange bleiben.«
Auf Lews Armbanduhr war es kurz nach zehn, als Bony hinabstieg. Diesmal benützte er die Karbidlampe, da es unwahrscheinlich war, daß Sadie vor dem Nachmittag auftauchen würde, und bis dahin würde der Geruch längst verflogen sein.
Das grellweiße Licht verwandelte die finstere Höhle in ein Märchenreich. Er nahm eine gründliche Inspektion vor und entdeckte hinter der Truhe einen Primuskocher mit einer Kanne Petroleum. Eine Blechdose enthielt Säckchen mit Tee und Zucker, in Zellophan verpackte Kekse, eine Porzellantasse und eine halbgefüllte Dose Milchpulver.
Lews Augen hätten bei diesem Fund sicherlich aufgeleuchtet, denn seit sie ihr Stammlager am Hügel verlassen hatten -und das schien bereits eine Ewigkeit her zu sein -, hatten sie keinen Tee mehr getrunken.
Bony fand kein Wasser, und der Primuskocher schien schon lange nicht mehr benützt worden zu sein.
Jetzt, bei hellem Licht, sah Bony, daß die alte Truhe nach Sandpapier und Zedernöl verlangte, um wieder Glanz zu bekommen. Er vermutete Angelgerät und ähnliche Dinge, die von abenteuerlustigen Jungen und Mädchen gesammelt werden, in ihr zu finden. Gespannt hob er den schweren Deckel in die Höhe, und zu seiner Überraschung fand er ein weißes Kleid mit roten Punkten, ein Paar weiße Baumwollhandschuhe und außerdem noch ein Paar rote Sandaletten.
Seine Verblüffung war grenzenlos. Dieser Fund setzte ihn noch mehr in Erstaunen als der Anblick der beiden Leuchter bei seinem ersten Besuch in der Höhle.
Er kniete nieder und hob behutsam das Kleid aus der Truhe, sorgfältig darauf bedacht, daß keine Falte verrutschte. Handschuhe und Sandaletten folgten. Dann erschien ein Album mit Zeitungsausschnitten und, zwischen einigen Büchern mit kostbaren Einbänden, eine Pistole. Das Kaliber war größer als das seiner Dienstwaffe. Obwohl er mit dem Taschentuch eventuelle Fingerabdrücke abwischen konnte, benützte er es doch zum Aufheben der Waffe und roch am Lauf. Der Duft nach Boronia füllte die ganze Höhle aus - die Gegenstände in der Truhe dufteten besonders stark danach. Schweren Herzens tat er etwas Unvorschriftsmäßiges: Er entlud die Waffe, spähte durch den Lauf und stellte fest, daß er voller Pulverschmauch war, weil man ihn seit der letzten Benutzung der Waffe also nicht mehr gereinigt hatte.
Er legte die Pistole zu dem Album mit den Zeitungsausschnitten und steckte die Patronen in die Tasche. Dann sah er sich die Bücher näher an - es waren Preise, die Marvin Rhudder in der Sonntagsschule bekommen hatte. In einem ledernen Etui steckten zwei Fotos. Das
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