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Bookman - Das ewige Empire 1

Bookman - Das ewige Empire 1

Titel: Bookman - Das ewige Empire 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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pulvrige Masse. »Gilgamesch?«, rief er
wieder, doch alles blieb still. Selbst der Gesang der Wale war verklungen.
Orphan hatte das Gefühl, von unendlichem Schweigen umgeben zu sein, von einem
Schweigen, das sich über das Wasser ausbreitete und auch die Stadt mit
einbezog. »Gilgamesch?«
    Dann sah er sie – dunkle Flecken, die in einem Bogen von der
Feuerstelle bis zum Fluss führten. Er bückte sich, um sie zu berühren. Als er
die Hand zurückzog, waren seine Finger feucht.
    Wild blickte er sich um. Was war hier geschehen? An der Mauer fand
er Gilgameschs Decke, die große dunkle Flecken aufwies und irgendwie metallisch
roch.
    Aber nicht nach Blut.
    War das Öl? Oder Tinte?, schoss es ihm absurderweise durch den Kopf.
    Die Decke war zerrissen. Nein, korrigierte er sich, nicht zerrissen,
sondern zerschnitten, mit einem scharfen Instrument, einem Messer etwa … oder
einer Sense.
    Er entrollte die alte Decke, während panische Angst in ihm aufstieg.
Was war mit Gilgamesch geschehen? Innen war die Decke mit einer dunklen
Flüssigkeit getränkt. In dem schmutzigen Stoff klafften lange Schnitte.
    Orphan wusste, dass er die Polizei holen müsste. Doch was würde die
schon unternehmen? Nach der Explosion im Rose Theatre und angesichts der
Tatsache, dass in Whitechapel der Ripper sein Unwesen trieb, hatte die ganz
bestimmt Wichtigeres zu tun, als sich den Kopf über einen alten Bettler zu
zerbrechen. Orphan erhob sich und trat von der Decke weg. Seine Hände waren
beschmutzt.
    Ãœbelkeit befiel ihn, und die Panik in seinem Innern fühlte sich wie
eine Schlange an, die sich langsam entrollte und zischend den Kopf hob. Was war
geschehen? Was sollte er tun?
    Um ihn herum herrschte Stille. Weder Vogelgezwitscher noch Verkehrslärm
waren zu hören. Das Tageslicht war fast völlig verschwunden, bald wäre alles in
undurchdringliche Finsternis getaucht.
    Trotz seiner Angst folgte er den dunklen Flecken bis zum Rand des
Ufers. Er beugte sich nach unten, um sich im kalten, trüben Wasser die Hände zu
waschen.
    Dabei fiel ihm auf, dass auch Gilgameschs Angel nicht mehr da war.
Er blickte zur Seite und nach unten, konnte aber nichts entdecken.
    In dem Moment ließ ihn ein merkwürdiges Geräusch aufhorchen. Es kam
aus dem Wasser und hörte sich an, als klirrten Champagnergläser aneinander. Er
beugte sich noch tiefer hinab und fuhr mit der Hand am Uferdamm entlang. Die
glitschigen kalten Steine fühlten sich unangenehm an. Dann entdeckte er es:
Seine Finger stießen auf etwas Hartes und Rundes. Das Geräusch hörte auf.
    Es handelte sich um ein längliches, rundes Objekt aus glattem Glas,
das, wie Orphan feststellte, mit einer Angelschnur an einem verrosteten Haken
festgebunden war, der unter Wasser aus der Uferbefestigung ragte. Obwohl ihm
die Finger im kalten Wasser taub wurden, gelang es ihm, den Gegenstand
loszubinden und aus dem Fluss zu ziehen. Es war eine Flasche.
    Plötzlich drangen vom Uferweg laute Stimmen an sein Ohr. Orphan
zuckte zusammen und zog sich in die Dunkelheit des Brückenbogens zurück. Die
letzten Strahlen der Sonne verschwanden, und längs des Flusses erwachten die
Straßenlaternen zum Leben. Eine nach der anderen glomm auf, um mit ihrem
behaglichen gelben Schummerlicht die Dunkelheit zu vertreiben. Mit hämmerndem
Herzen wartete Orphan, bis die Stimmen, die betrunken klangen, vorüber waren.
Dann packte er mit festem Griff die Flasche und eilte davon, ließ die
blutartigen Flecken und die Brücke hinter sich, die Stelle, wo sein Freund auf
unerklärliche Weise verschwunden war. Denn als er die Flasche aus dem Wasser
gezogen hatte, waren Orphan zwei Dinge aufgefallen: dass es sich um jene
Flasche handelte, die er Gilgamesch am gestrigen Abend mitgebracht hatte, die
gestohlene Flasche Château des Rêves; und dass sie zwar keinen Wein mehr
enthielt, aber auch nicht leer war. Denn sie war fest verschlossen, und in
ihrem Innern raschelte ein zusammengerolltes Blatt Papier wie ein eingesperrter
trauriger Schmetterling, der darauf wartete, freigelassen zu werden.
    Er begab sich auf die andere Seite des Flusses und
flüchtete sich in die wohltuend warme, gut beleuchtete Halle der Charing Cross
Station. Um ihn herum herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Menschen,
die gerade den Zügen entstiegen waren oder zu den Zügen eilten, die wie gigantische
metallene Lasttiere auf den Gleisen standen

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