Bookman - Das ewige Empire 1
und Rauch und Dampf in die kalte
Nachtluft spuckten. Orphan lehnte sich in der Nähe eines Standes, von dem es
nach frischen Backwaren duftete, gegen die Wand und öffnete die primitiv
verschlossene Flasche. Dann zog er vorsichtig das Papier heraus.
Gilgameschs ungleichmäÃige Handschrift bedeckte die ganze Seite.
Offenbar hatte er sehr schnell geschrieben. Das Schreiben war â trotz der Wärme
in der Bahnhofshalle fröstelte Orphan wieder, und in seinen Fingern kribbelte
es, als wären sie immer noch ins eisige Wasser der Themse getaucht â an ihn
gerichtet.
Während sich um ihn herum die Menschen drängten, die kurzen scharfen
Pfiffe von den Bahnsteigen in seinen Ohren gellten, begleitet vom Rattern der
Räder der in die Dunkelheit davonfahrenden Züge, und sein Magen, angeregt vom
Duft der Backwaren und frischen Kaffees, trotz allem leise vor sich hin
knurrte, machte Orphan sich daran, Gilgameschs Brief zu lesen:
Mein lieber Orphan,
während ich dies schreibe, erhellt
(wie ich vermute) eine gewaltige Explosion den Himmel über der Themse, ein
Umstand, der mich eher freudig erregt als beunruhigt â denn dieser Feuerball
ist ein Signal, das mir mein Ende ankündigt. Ich werde versuchen, Dir diese
Zeilen mit der Post zukommen zu lassen, aber ich glaube, dafür bleibt mir keine
Zeit mehr, denn ich merke bereits, wie ich immer matter und apathischer werde.
Er kommt, um mich zu holen, mich, der in all diesen Jahrhunderten in
Vergessenheit geraten ist. Doch der Bookman vergisst nie, und seine Geschöpfe
gehören für immer ihm â¦
Als ich vom Bookman sprach, hast Du
gespottet und ihn als Legende bezeichnet. Aber den Bookman gibt es wirklich,
ebenso wie es mich gibt. Wer bin ich, Orphan? Wir beide, Du und ich, sind
übereingekommen, mich für Gilgamesch zu halten, den letzten Vertreter einer
uralten Kultur, einen Dichter und Krieger aus längst vergangener Zeit. Da haben
wir uns, glaube ich, gegenseitig etwas eingeredet â obwohl die Wahrheit
vielleicht gar nicht so weit von der Fiktion entfernt ist. Jedenfalls verdienst
Du es unbedingt, Bescheid zu wissen â¦
In jeder Vorstellungswelt gibt es den
Glauben an Unsterbliche. Die Seeleute haben ihren Fliegenden Holländer, die
Entdecker ihren Vespucci, die Juden die 36 Gerechten. Und Dichter haben
vielleicht Gilgamesch â¦
Auch ich bin unsterblich gewesen. Und
das werde ich sein, bis das Messer niederfährt, was, so fürchte ich, bald
geschehen wird. Wer war ich? Auch ich war ein Dichter, einer von der
schlimmsten Art â einer mit GröÃenwahn. Als Vespucci zu seiner Entdeckungsreise
aufbrach, begleitete ich ihn, denn es muss immer jemand dabei sein, der groÃe
Entdeckungen aufzeichnet. Ich war mit ihm auf Calibans Insel, wo er Les Lézards
aus ihrem tiefen Schlaf weckte, in den Metallkammern, die im Herzen dieses
schrecklichen Eilands in einem riesigen Krater verborgen sind. Fast als
Einzigem gelang es mir zu entkommen, nachdem mir die schrecklichen Dinge, deren
Zeuge ich geworden war, das Augenlicht geraubt hatten. Ich stach in See, wo ich
tagelang umhertrieb, halb verrückt und immer schwächer werdend. Als er mich
schlieÃlich fand, hatte ich diese Welt fast schon verlassen â¦
Er ⦠stellte mich wieder her? Heilte
mich? Aber er tat noch mehr â er raubte mir das Wissen über die Insel, dann
lieà er mich gehen. Das Augenlicht hat er mir jedoch nicht zurückgegeben.
Vielleicht war er damals schon der Ansicht, ich hätte zu viel gesehen â¦
Ich hatte gedacht, er hätte mich
vergessen, doch der Bookman vergisst nie.
Und jetzt, fürchte ich, kommt er, um
mich zu holen. Vielleicht ist das der Schluss, vielleicht finde ich jetzt, nach
all den langen kalten Jahren, endlich Frieden. Doch ich habe Angst vor ihm, und
ich weiÃ, dass er nicht ruhen wird, bis das, was auf dieser verfluchten Insel
begonnen hat, zu Ende gebracht werden kann. Zwischen ihm und den Echsen gibt
es, glaube ich, eine Verbindung, und er ist rachsüchtig.
Vielleicht gehörte er einst selbst zu
ihnen. Ihre Geschichten sind miteinander verknüpft â¦
Aber warum, wirst Du fragen, erzähle
ich Dir das alles? Vielleicht weil ich vermute, dass auch Du bei dieser
Tragödie, die sich anbahnt, eine Rolle zu spielen haben wirst. Vielleicht weil
ich Deinen Vater kannte, der ein guter Mensch war, und ebenso Deine Mutter, die
Du nie kennengelernt
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