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Bookman - Das ewige Empire 1

Bookman - Das ewige Empire 1

Titel: Bookman - Das ewige Empire 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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kummervollen Augen zu
betrachten. »Du siehst schrecklich aus«, sagte die eine, indem sie ihm ihre
kühle Hand auf die Stirn legte. »Ganz bleich und schwach«, fügte sie nickend
hinzu und strich Orphan das Haar aus der Stirn. »Das kommt von deinem gebrochenen
Herzen. Ich kenn das.«
    Â»Lasst ihn in Frieden!«, schrie Tom Thumb, als er mit einem großen
bauchigen Glas in der Hand hinter dem Tresen hervorkam. »Hier, Jungchen, trink
das.«
    Die Flüssigkeit im Glas sah seltsam aus und hatte eine leuchtend
rot-gelbe Farbe wie der Himmel bei Sonnenaufgang. »Das ist eine meiner kleinen
Kreationen«, erklärte Tom Thumb, »der ich den Namen Mezcal Sunrise gegeben
habe. Erfunden habe ich sie auf meiner Reise durch Mexica. Hab ich dir je von
meinem Aufenthalt bei den Azteken erzählt? Mit Barnum waren wir damals dort, in
der guten, alten Zeit …« Er seufzte wehmütig. »Da müsstest du auch mal hin,
Orphan. Ein großartiges Land! Mit hinreißenden Frauen!«
    Â»Na hör mal!«, empörte sich eines der Mädchen – um der
Bequemlichkeit willen beschloss Orphan, sie für Ariel zu halten. »Letzte Nacht
hast du noch gesagt, dass nichts über Britanniens Frauen ginge!«
    Â»Ach, Ariel«, erwiderte Tom Thumb (Orphan stellte mit Genugtuung
fest, dass er recht gehabt hatte), »die Welt ist voller Geheimnisse und
Schönheiten, die zu zahlreich sind, als dass man sie alle erkunden könnte. Aber
faszinierend und fesselnd sind sie alle!« Er grinste. »Das war Barnums
Lieblingsspruch.«
    Orphan hielt das bauchige Glas, aus dem zwei Strohhalme ragten, mit
beiden Händen fest und probierte den Drink. Er schmeckte süß und war
gleichzeitig erfrischend, sodass Orphan den Eindruck hatte, in der Tat ein
wenig Sonnenschein getrunken zu haben. Er lächelte schläfrig. »Ihr seid alle
sehr nett zu mir. Sehr nett«, sagte er. Dann fielen ihm die Augen zu, und im
nächsten Moment war er eingeschlafen.
    Da er schlief, konnte er nicht sehen, wie Tom ihm das Glas
vorsichtig aus den Händen nahm und auf den Tresen stellte. Ebenso wenig merkte
er, wie die beiden Mädchen Tom halfen, ihn aufs Bett zu tragen, wo er friedlich
wie ein Kind weiterschlummerte. Eine tiefe, traumlose Schwärze umgab ihn, die
seinen Schmerz und die Fiebrigkeit seiner Gedanken linderte und ihn Ruhe finden
ließ.
    Als er erwachte, war der Pub leer und still. Im Kamin brannte noch
ein kleines Feuer. Er setzte sich auf und betrachtete eine Zeit lang die
Flammen, die wie Kobolde über das Holz tanzten. Dann streckte er zögernd die
Hand aus, um auf dem Tisch neben dem Bett (einem alten Pubtisch mit zahllosen
Brandstellen von Zigaretten und Flecken von verschütteten Drinks) nach
Schreibutensilien zu suchen. Nachdem er Papier und Federhalter gefunden hatte,
machte er sich daran, ein Gedicht zu verfassen.
    wie Luft, die strömt in ein fahles
Gefäß (schrieb Orphan)
    erfüllt dich Schweigen,
    das um dein Haar sich windet, es verstummen
lässt
    und durch deine Adern schießt
    atmend, seufzend
    um einzunisten sich an deinem weichen Hals
    es füllt dich bis zum Rand, bis dir
die
    Augen übergehn – und Schweigen aus dir
bricht, dich
    aufreißt;
    ich schließ dich zu mit meinem Mund, du
seufzt
    und wendest dich im Schlaf.
    Er dachte an Lucy, an all die Dinge, die er ihr nie hatte sagen
können, an die Zukunft und all die Möglichkeiten, die es jetzt nicht mehr gab.
Es war, als wäre eine Straße, die sich zuvor in unzählige unerkundete Pfade
verzweigt hatte, auf einmal versperrt – und alles, was sie verheißen hatte,
verschwunden. Wenn ich kann, dachte er, werde ich sie zurückholen, selbst wenn
ich mich dafür an den Bookman wenden muss.
    Er legte das Gedicht aufs Bett und erhob sich, um einer profaneren
Tätigkeit nachzugehen. Auf wackligen Beinen stieg er die enge Treppe hinab (und
zog gerade noch rechtzeitig den Kopf ein, um sich nicht an der niedrigen Decke
zu stoßen), bis er das Wasserklosett am Fuße der Stufen erreichte. Danach
kehrte er ins Bett zurück und saß still da, um den Flammen zuzusehen und seinen
Gedanken nachzuhängen. Er wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Draußen
herrschte Dunkelheit, wie immer im Bull Inn Court. Und Uhren gab es keine im Pub.
»Uhren sind die Feinde der Zeit«, pflegte Tom zu sagen, »die Gefängniswärter
des Tages und die Türschließer

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