Bookman - Das ewige Empire 1
Kummer hat mir die Seele verwirrt â drum schmachte ich hier,
dass Gott sich erbarm, eines Säufers Kind, so hungrig und arm!«
»Eines Säufers Kind, so hungrig und arm!«, murmelte Orphan vor sich
hin, als die Tür aufging und Tom Thumb in Begleitung von Belinda und Ariel
hereinkam.
»Mein Vater, der hat unsre Habe vertrunken, drauf sind in bittre Not
wir versunken, das letzte Glas gab den Rest ihm, und er starb unter Flüchen,
mit Schaum vor dem Mund, und ich muss jetzt wandern, dass Gott sich erbarm,
eines Säufers Kind, so hungrig und arm!«
Tom Thumb hörte auf zu singen, warf einen Beutel mit Lebensmitteln
auf den Tresen und fragte: »Wie fühlst du dich, Kumpel?«
»Wesentlich besser«, gestand Orphan, und die zwei Freunde lächelten
sich an. Belinda und Ariel gesellten sich, in eine fruchtige Parfümwolke
gehüllt, zu Orphan und herzten ihn, als wäre er ein Kätzchen oder Hündchen.
Dann fassten sie ihn bei den Händen und zwangen ihn, mit ihnen durchs Zimmer zu
tanzen.
»Mein Mütterlein liegt im Grabe so kalt und lieà mich zurück in des
Elends Gewalt, als das Herz ihr brach, zum Himmel sie blickte und sterbend nach
oben ein Lächeln noch schickte, doch ich bin noch hier, dass Gott sich erbarm,
eines Säufers Kind, so hungrig und arm!«
Vom Rhythmus des Tanzes und des Liedes angesteckt, hüpfte Orphan
grinsend umher, während die zwei lachenden Mädchen ihn wie Nymphen umgaukelten,
die gerade einem abgelegenen Teich mitten in einem uralten Wald entstiegen
waren.
»Mein Kleid ist zerlumpt, ich hab keine Schuh, bin von allen verlassen
und finde nicht Ruh, und auch aus der Hütte, die Heim mir einst war, muss
weichen ich nun, des Obdaches bar, ich muss in die Fremde, dass Gott sich
erbarm, eines Säufers Kind, so hungrig und arm!«
Dann fielen sie alle lachend auf das breite Bett.
Orphan setzte sich hoch. »Wie spät ist es eigentlich?«
»Hört, ihr Nachbarn, lasst euch sagen, die Uhr hat gerade zwölf
geschlagen«, sagte Tom Thumb grinsend.
Von einer plötzlichen Unruhe überkommen, stand Orphan auf.
»Mitternacht?«
»Du hast lange geschlafen.«
»Das brauchtest du auch!«, erklärte Ariel. »Als du letzte Nacht hier
aufgekreuzt bist, hast du wie Hamlets Geist ausgesehn.«
»Ich hab was für dich«, verkündete Tom. »Aus dem Laden.«
»Von Jack?«
Tom schüttelte den Kopf. »Den hab ich überhaupt nicht gesehen.
Möglicherweise war er im Souterrain, blicken lassen hat er sich jedenfalls
nicht.«
Er holte ein zusammengefaltetes Stück Papier aus seiner GesäÃtasche
und reichte es Orphan, der es sogleich entfaltete.
»Von diesem grässlichen Zauberkünstler«, erklärte Tom, »diesem
Maskelyne. Er hat nach dir gefragt, dann lieà er den Brief zwischen den Seiten
des Buchs, das ich grade las, erscheinen, der Blödmann.«
Orphan lächelte. Er wusste, wie sehr Maskelyne solche Zaubertricks
liebte. Dann wandte er sich dem Brief zu.
Lieber Orphan, (schrieb
Maskelyne)
mit groÃem Bedauern habe ich von den
jüngsten Geschehnissen gehört und bin nur froh, dass Du selbst noch am Leben
und auf dem Wege der Besserung bist.
Wie Du dich erinnern wirst, habe ich Dir bei
unserem letzten Gespräch angeboten, mich in der Egyptian Hall aufzusuchen,
falls Du jemals Rat brauchst.
Gestatte mir, dieses Angebot zu erneuern.
Wenn die Zauberkunst eine mit Rauch und Spiegeln arbeitende Illusion ist, dann
mag in den Spiegeln, die wir kaschieren, bisweilen dennoch eine tiefere
Wahrheit aufscheinen, die sich mit bloÃem Auge nicht erkennen lässt.
Also komm â und komm bald.
Dein
J. Maskelyne
»Was will er?«, fragte Tom.
Orphan zuckte die Achseln. Die mitfühlenden Worte des
Zauberkünstlers waren ihm so nahegegangen, dass er vorerst nichts zu sagen
vermochte. Wieder wurde er von seiner Erinnerung überwältigt, und er sah die
lächelnde Lucy vor sich, die das Buch in den Händen hielt, sah den hellen Blitz
der Explosion, die ihr Leben beendet und das seine für immer verändert hatte.
Ich muss etwas tun, dachte er. Ich muss den Bookman finden. Das hatte er in
diesem Hafen der Ruhe fast vergessen, doch jetzt schien die gespenstische,
nebelhafte Erscheinung erneut Gestalt anzunehmen, schien sich lautlos gegen die
Fenster zu pressen, um ihn in seiner Hilflosigkeit zu beobachten. Die Worte
seines Freundes
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