Bookman - Das ewige Empire 1
denn als Orphan es aussprach, war er kurz davor zusammenzubrechen.
Möglicherweise bemerkte Tom das, vielleicht gab es aber auch einen anderen
Grund für sein Verhalten. Jedenfalls ging er wortlos hinter die Bar, um kurz
darauf mit einem riesigen Revolver zurückzukehren. Orphan trat unwillkürlich
einen Schritt zurück.
Tom grinste. »Mein alter Friedensstifter«, sagte er in liebevollem
Ton. Er brauchte beide Hände, um die Waffe zu halten. Dann packte er den
Revolver beim Lauf, um ihn Orphan zu reichen, der ihn vorsichtig an sich nahm.
Plötzlich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, ob das, was er plante,
überhaupt einen Sinn hatte.
»Ein fünfundvierziger Colt«, erklärte Tom »Sechsschüssig. Wen willst
du denn erschieÃen?«
»Niemanden«, antwortete Orphan. »Hoffe ich zumindest.«
Tom nickte. »Möchte ich auch hoffen. Warte mal.« Er ging hinter die
Bar zurück, um einen Gürtel mit Halfter und eine Handvoll Patronen zu holen.
»WeiÃt du, wie man damit umgeht?«
»Das werde ich schon herausfinden«, meinte Orphan. Tom nickte bloÃ
und half ihm, den Gürtel umzubinden. »Klar.«
Geschickt schob er fünf Patronen in die Kammern. »Du musst ihn
spannen, bevor du schieÃt. Dreh die leere Kammer immer zum Lauf, sonst könnte
es passieren, dass du dich selbst erschieÃt. Viel SpaÃ. Und sieh zu, dass du
niemanden tötest.«
»Mach ich«, erwiderte Orphan. Der Revolver hing schwer an seiner
Hüfte, hatte aber auch etwas Beruhigendes. Genau das brauche ich, dachte er.
Und sei es nur, um mir bei dem, was ich vorhabe, Mut einzuflöÃen.
»Moment mal«, sagte Tom. »Einen Hut brauchst du auch.« Er ging in
die rechte Ecke des Raums, kramte in einem kleinen Schrank herum und kam mit
einem breitkrempigen Hut zurück, den er Orphan auf den Kopf setzte. »Jetzt
siehst du richtig zünftig aus.«
Tom hatte einen Ganzkörperspiegel (zumindest für seinen Körper)
neben der Treppe stehen. Orphan stellte sich weit genug davon auf, um sich
darin betrachten zu können. Er erblickte ein müdes, mit Bartstoppeln bedecktes
Gesicht, das vom Hut beschattet wurde, sowie die Hände eines Dichters, die sich
in kurzen Abständen zu Fäusten ballten. Wie er fand, ähnelte er durchaus einem
der Revolverhelden, die er einmal in Buffalo Bills Wildwestshow gesehen hatte,
als die Truppe in der Hauptstadt aufgetreten war.
»Du siehst aus wie ein Kid«, stellte Tom fest, der sein Lachen nicht
ganz unterdrücken konnte. »So hätte man dich auch angekündigt, wenn du damals
bei Barnum aufgetreten wärst. Das Kid.« Er lachte von Neuem. Orphan blieb
jedoch ernst. Das Kid, dachte er. Die Bezeichnung gefiel ihm.
»Das Kid«, sagte er laut.
Tom hörte auf zu lachen und sah ihn irgendwie feierlich an. »Pass
auf dich auf, Orphan.«
»Mach ich«, versicherte Orphan. Dann wandte er sich vom Spiegel ab
und marschierte aus dem Pub.
»Und bring mir meinen Revolver zurück!«, rief Tom ihm nach. »Den hat
Colt selbst mir geschenkt!«
Tom lehnte sich gegen den Türrahmen und sah Orphan hinterher, bis er
um die Ecke verschwand.
»Ob ich dich wohl je wiedersehen werde?«, murmelte Tom vor sich hin.
»Pass auf dich auf, Orphan. Um unser aller willen.«
Während Orphan die St. Martinâs Lane entlangging, dachte er
über Endspiele nach. Es gibt viele Spieler, sinnierte er, aber nur zwei
Parteien. Und das Ziel des Spiels besteht darin, den König zu Fall zu bringen.
Aber was, wenn es gar keinen König gab? Wenn eine Dame, eine Königin, das Brett
beherrschte? Das Ziel bliebe sich gleich, schlussfolgerte er.
DrauÃen war es kälter geworden, und am Himmel zogen dunkle Wolken
einher â wie eine Flotte von Kriegsschiffen, die die zuvor herrschende Wärme in
die Flucht geschlagen hatte. Die StraÃe war fast menschenleer, und das schwache
Licht der Gaslaternen warf dunkle Schatten, die wie in einem barbarischen Tanz
auf und ab zuckten und sich hin und her drehten. Ich möchte mein altes Leben
wiederhaben, dachte Orphan. Möchte in den Laden zurück, Bücher verkaufen,
Gedichte schreiben. Möchte unter der Brücke mit Gilgamesch reden, mir
Theaterstücke ansehen, Lucy lieben und von ihr geliebt werden ⦠doch all das
ist vorbei. Und ich steh allein da.
Er bog nach links in den Cecil Court ab. In Paynes Buchladen war
alles
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