Bookman - Das ewige Empire 1
weit
zurück und schien sich in einer anderen Welt ereignet zu haben.
Er richtete den Blick auf Wyvern, der ihn mit seinem einen Auge
anstarrte. »Warum?«, wiederholte Orphan, doch wieder war es Aramis, der
antwortete. »Wyvern möchte nicht erleben, dass andere in diese Welt einfallen,
die er als seinen Spielplatz betrachtet. Selbst wenn diese anderen nur
herkommen, um ihre Artgenossen abzuholen. Deshalb steht er zurzeit, glaube ich,
eher auf der Seite des Bookman als auf der seines Volkes. Er hätte nichts
dagegen, wenn du den Abschuss der Sonde verhindern würdest â falls dir das auf
wundersame Weise gelingen sollte. Und jetzt, Orphan, musst du gehen.«
Orphan starrte zur Insel hinüber. Noch eine Insel â wie Britannien,
wie die Insel des Binders. Nein.
Das war eine besondere Insel. Diese Insel hatte seine Welt geformt,
hatte den Lauf der Geschichte verändert. Vor allem aber war sie das Ziel seiner
Reise, das Ziel, auf das er seit jenem Tag unter der Waterloo Bridge zustrebte,
als er Gilgamesch besucht hatte, um sich anschlieÃend mit Lucy im Rose Theatre
zu treffen ⦠Als er an Lucy dachte, wusste er, dass er weitermachen musste.
»Muss ich hinschwimmen?«, fragte er.
»Wir können nicht landen«, erwiderte Aramis. »Bislang sind die
Abwehrmechanismen der Insel noch nicht aktiviert worden.« Das klang nicht
sonderlich beruhigend. »Was hauptsächlich an Wyvern liegt. Aber sobald du die
Insel betrittst, sieht die Sache anders aus. Du musst also in der Tat
schwimmen.«
»Was sind das für Abwehrmechanismen?«
»Wenn Sie Pech haben, finden Sie das bald heraus«, sagte Wyvern.
Erst jetzt bemerkte Orphan, wie schmutzig seine Kleidung war, die
auÃerdem nach Rauch und Blut roch. Sein Kinn und seine Wangen waren mit
juckenden Bartstoppeln bedeckt. Er sagte nichts, denn es gab nichts mehr zu
sagen. Nachdem er tief Luft geholt hatte, kletterte er über den Rand des Bootes
und lieà sich ins Wasser gleiten.
Das angenehm warm war. Er tauchte kurz unter, um den Dreck und
Gestank von sich abzuwaschen. Als er wieder hochkam, sah er, wie das Boot mit
seinen zwei seltsamen Insassen davonfuhr. Orphan schüttelte, Wasser um sich
spritzend, den Kopf, dann tauchte er wieder. Plötzlich fühlte er sich frei.
Schade, dass ich nicht immer hier im Wasser bleiben kann, dachte er. Aber das
war, wie er begriff, keine echte Freiheit. Das war eine Freiheit, die sich aus
einem Mangel an Alternativen ergab, eine Freiheit, die ihm überdies nur
deswegen zuteilwurde, weil er seine Entscheidung hinauszögerte. Kurzum, es war
eine passive Freiheit.
Er warf sich nach vorn und schwamm aufs Ufer zu.
Zunächst war alles einigermaÃen glattgegangen â bis dann
das Insekt kam.
Orphan blieb reglos stehen.
Das Insekt lieà sich auf seinem Arm nieder. Es war so groà wie seine
Faust. Seine dünnen, transparenten Flügel schimmerten in allen
Regenbogenfarben. Zwei dicke schwarze Fühler betasteten Orphans Haut. Das
Insekt gab ein leises mechanisches Summen von sich und schien Orphan mit seinen
hellen Facettenaugen von allen Seiten zu betrachten.
Nachdem er den Strand erreicht hatte, wo weder Spuren im schwarzen
Sand noch sonst etwas zu sehen war, das auf Lebewesen hinwies, hatte er eine
Zeit lang dagelegen und sich von der Sonne trocknen lassen. Es wurde bereits
ziemlich heiÃ. Nach einer Weile hatte ihn vor allem sein Hunger veranlasst,
sich zu erheben und den Hügel emporzuklimmen.
Die Vegetation war spärlich. Die felsige, trockene Landschaft machte
einen fast toten Eindruck. Als er die Kuppe des Hügels erreicht hatte, machte
er halt und kauerte sich unwillkürlich hin.
Ganz so tot war die Natur hier doch nicht.
Von seinem Standort aus konnte er einen Teil der Insel überblicken. Die
Hügel setzten sich nach links und rechts fort. Möglicherweise verliefen sie in
einem Ring um die Insel, sodass das Innere des Landes dem Blick entzogen war.
Und was das Innere betraf ⦠Das Gelände vor ihm fiel sanft nach unten ab und
ging in einen dichten Wald über. Bäume, deren Namen er nicht kannte, ragten gen
Himmel empor und bildeten mit ihren Wipfeln einen undurchdringlichen Baldachin.
Anzeichen von Leben vermochte er zwar noch nicht auszumachen, aber ⦠dort war
ein Pfad, der in den Wald hinabführte und gewiss nicht von selbst entstanden
war. Das war die erste künstliche Sache, die er auf der Insel entdeckte.
Weitere Kostenlose Bücher