Bookman - Das ewige Empire 1
schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, ob das, was er gerade
erlebte, wohl mit dem zu vergleichen war, was einem Automaten zuteilwurde â
einem Automaten, der Neugier und Kommentaren ausgesetzt war, ohne dass
Rücksicht auf ihn genommen wurde.
»Du sagst, du hättest deine Mutter nie kennengelernt?«, fragte die
Frau.
»Nein«, erwiderte Orphan. »Ich meine, ja. Ich kenne nicht einmal
ihren Namen.«
»Mary«, sagte der Mann mit dem Haarkranz in verwundertem Ton. »Er
muss Marys Sohn sein â¦Â«
Wie verzückt fingen die Leute um Orphan an, den Namen vor sich hin
zu flüstern. »Mary?«
»Mary â¦Â«
»Mary!«
»Halt! Moment mal!«, rief Orphan und schob die Umstehenden energisch
von sich. »Mein Vater war vespuccianischer Seemann. Ich kannte meine Mutter
zwar nicht, aber ich möchte bezweifeln, dass sie von ⦠nun ja ⦠von hier
stammte!« Seine Erschöpfung, sein Hunger, die Hitze, seine Verwirrung, seine
Angst â all das trug dazu bei, dass er in Zorn geriet. Aufgebracht fuchtelte er
mit dem Arm, eine Geste, die die ganze Umgebung â die trübe Beleuchtung, den
Pilzwald, die ärmlichen Hütten, die schäbige Kleidung â einzuschlieÃen schien.
»Dieser Ort ist nichts als eine Legende! Eine Geschichte, die man sich erzählt!
Das ist kein Ort, wo Menschen herstammen!«
»Wir schon«, entgegnete die alte Frau und lächelte ihn an. Ihre
Zähne waren für ihr Alter erstaunlich weià und gleichmäÃig. »Oh, Geschichten
sind etwas Reales, mein Junge. In weitaus gröÃerem MaÃe, als du dir vorstellen
kannst! Erzählt man in deinem Empire immer noch Geschichten über uns? Wird noch
immer vom letzten König und von der letzten Königin und ihrem schmachvollen
Exil geraunt?«
»Den letzten was ?«, erwiderte Orphan.
29
Mary
Mary, Mary, Dickkopf du,
Wie wächst und blüht dein Garten?
Mit Blümelein und Muschelschaln,
Wo hübsche Maiden warten.
Alter Kinderreim
Sie saÃen in einer der Hütten, die merkwürdig organisch
wirkten, als wären sie eher gewachsen denn erbaut. In der Mitte brannte ein
kleines Feuer, dessen Rauch durch einen Schornstein abzog. Ãber den Kohlen
stand ein groÃer Eisenkessel.
Die alte Frau hatte Orphan gegenüber Platz genommen. Wie er erfahren
hatte, hieà sie Catherine. Dass sie behauptete, seine GroÃmutter zu sein,
wollte ihm immer noch nicht in den Kopf.
»Dann ist er in Wirklichkeit gar kein Pirat?«, sagte Elizabeth
enttäuscht. Sie stand an der Tür und machte einen irgendwie zappeligen
Eindruck.
»Und du bist in Wirklichkeit eine Prinzessin?«, gab Orphan zurück.
Die Worte kamen ihm kaum über die Lippen, wenn er sich die halbwilde Kleine mit
ihrer braun gebrannten Haut und ihrem schmutzigen, verfilzten Haar ansah.
Elizabeth schnaubte verächtlich.
»Oh, die waren vielleicht grausam!«, sagte Catherine. »Nachdem
dieser verfluchte Vespucci sie aus dem Schlaf geweckt hatte, verschworen sie
sich im Handumdrehen gegen uns! Als sie zu uns kamen, hieÃen wir sie am Hof
feierlich willkommen. Doch sie kamen wie Diebe, wie Räuber und fielen in der
Nacht über uns her, nahmen uns alle gefangen und brachten uns noch vor
Tagesanbruch auf ein Schiff.«
Sie machte eine Pause und starrte gedankenverloren in die Glut. »Das
habe ich von meinem Vater erfahren«, fuhr sie mit leiser Stimme fort, »der es
zuvor von seinem Vater gehört hatte, der es wiederum von seinem wusste und so
weiter und so fort.« Sie machte eine ausholende Handbewegung. »Diese Hütte ist
der einzige Palast, den ich je kennengelernt habe.«
»Und du sagst, du bist â¦Â«, setzte Orphan an, brachte es jedoch nicht
über sich, den Satz zu beenden.
Catherine lächelte. »Ja«, erwiderte sie. »Ich bin die Tochter des
rechtmäÃigen Königs und der rechtmäÃigen Königin von England, in direkter
Abstammung. Was dich, William, zum König in Bereitschaft macht.«
»Wie bitte?«
»Zum König im Exil«, erläuterte sie.
»Wie bitte?«
Als sie seine Verwirrung bemerkte, lächelte sie sanft. »Zum Mann,
der König sein sollte, William«, sagte sie.
»Pardon«, entgegnete Orphan, »aber das ist lächerlich.«
William?
»Sieh dich doch an«, sagte die alte Frau. »Willst du die Familienähnlichkeit
etwa abstreiten?«
Orphan
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