Borderlands
mit
gebührendem Abstand – Auto an Auto. Einem ungeschriebenen Kodex gehorchend,
respektierte man die Intimsphäre der anderen. Auch ich hatte das früher getan,
als mein Vater mir endlich erlaubt hatte, mit seinem Auto meine Freundin
abzuholen. Die Bauart der Wagen hat sich seither stark verändert – und in
Anfällen selbstgerechter Empörung argwöhne ich, dass sich wahrscheinlich auch
die Aktivitäten der Pärchen deutlich verändert haben (obwohl ich ahne, dass dies
vermutlich gar nicht stimmt). Der Ort selbst jedoch ist unverändert – so dunkel
und verstohlen wie die linkischen Umarmungen, die sich dort abends auf den
Rücksitzen abspielen. Es war nicht einmal unwahrscheinlich, dass Angela Cashell
in einem solchen Auto den Tod gefunden hatte.
»Vielleicht
kamen sie von eurer Seite«, sagte ich zu Hendry und deutete zum oberen Rand der
Uferböschung, wo diejenigen, die Angela hier zurückgelassen hatten, gestanden
haben mussten.
»Möglich«,
stimmte er zu, »aber sie gehört euch. Das ist seit 1883 euer erster–«
»Mord«, fiel
einer der Unseren ein. »Und man hat ihn gehängt!«
»Geschah dem
Kerl recht«, pflichtete einer der Nordiren ihm bei.
»Ach, seitdem
gab es noch mehr«, sagte ich. »Wir haben nur die Leichen noch nicht gefunden.«
Hendry lachte.
»Wir helfen, so gut wir können, Devlin, aber Sie haben hier die Leitung.« Er
warf Angela einen letzten Blick zu. »Sie war ein hübsches Mädchen. Ich hätte
keine Lust, es ihren Eltern beizubringen.«
»Himmel, da
sagen Sie was«, erwiderte ich. »Sie kennen ihren Vater Johnny Cashell nicht.«
»Ach, ich weiß
genug«, entgegnete Hendry düster und zwinkerte. »Der britische Geheimdienst ist
noch nicht völlig den Bach runter.« Dann schüttelten wir einander die Hände; er
ging auf seiner Seite der Grenze davon und stemmte sich den heftigen Böen
entgegen, die den Geruch von Wasser über das Grenzgebiet trugen.
Sämtliche Gardai kennen Johnny Cashell beim
Vornamen, denn er hatte zahllose Nächte im Gewahrsam der kleinen Polizeiwache
im Ortszentrum verbracht. Vor ein paar Jahren hatte die Countyverwaltung den
gesamten Ort verschönert und rund um den kopfsteingepflasterten Platz neue
Laternen und Blumenampeln angebracht sowie entlang der Hauptstraßen Bänke
aufgestellt. Damals hatten wir die Bank vor der Wache »Sadie’s« getauft, weil
Cashells Frau darauf schon so oft auf Johnnys Entlassung aus der
Ausnüchterungszelle gewartet hatte.
Johnny Cashell war ein verstockter Mensch mit
einem Groll gegen jeden, der gebildeter war als er. Er pflegte in den örtlichen
Kneipen Hof zu halten und damit anzugeben, was er alles erreicht hatte, obwohl
er mit vierzehn von der Schule abgegangen war. Tatsächlich war er ein Kleinkrimineller,
der Geld aus Telefonzellen und Sammelbüchsen stahl und an die Mauer des
Militärpostens pinkelte, wenn er auf dem Heimweg daran vorbeitorkelte.
Ganz gleich
wie tief Johnny sank, Sadie wartete stets auf ihn, sogar nachdem er das
Rentenbuch seiner Schwiegermutter gestohlen hatte, um deren Rente zu kassieren.
Aber als er die neunmonatige Gefängnisstrafe dafür abgebüßt hatte, mussten wir
unsere Meinung über Sadies bedingungslose Loyalität ein wenig revidieren. Drei
Monate später bekam Sadie nämlich eine Tochter – das einzige Mitglied der
Familie Cashell, das nicht Johnnys hell-kupferrote Haare, sondern einen weißblonden
Haarschopf hatte. Sie nannten das Mädchen Angela, und soweit man wusste,
behandelte Johnny sie wie sein eigenes Kind, ohne ihre Herkunft je in Frage zu
stellen. Wir nahmen alle an, dass es ihm insgeheim sehr zu schaffen machte –
das hellblonde Haar stand in zu krassem Gegensatz zu dem feurigen Rot ihrer
Geschwister. Wenn Johnny lauthals in seiner Zelle pöbelte, bis es nicht mehr zu
ertragen war, zogen wir ihn in schwachen Momenten damit auf, dass seine blonde
Tochter die Hübscheste in dem ganzen Haufen sei. Schon die leiseste Andeutung
brachte ihn zum Schweigen und garantierte demjenigen, der wegen Johnny in der
Wache festsaß, den Nachtschlaf.
Es hörte
gerade auf zu schneien, als die stellvertretende Rechtsmedizinerin mit ihrer
schwarzen Arzttasche eintraf. Während sie arbeitete, stand ich am Fluss, fragte
mich, wie ich es Johnny Cashell beibringen sollte, und beobachtete, wie die
Sonne knapp über dem Horizont förmlich explodierte und die Wolkenrippen
zunächst rosa, dann purpurrot und orange färbte.
* * *
Cashell war ein rotgesichtiger Mann mit
breitem Kreuz und dichten
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