Borderline ein Narco-Thriller
Ein weiterer über dem Haus in der Luft schwebender Helikopter leuchtete die Szenerie mit blendend hellen Scheinwerfern aus. Während der Junge noch erschrocken die Invasion auf dem Rasen verfolgte, hörte er über den Lärm der Hubschrauber hinweg, wie unten im Haus krachend Türen aufgesprengt wurden. Männer schrien wild durcheinander, mit lautem Klirren zerbrachen Glasscheiben.
Dann fielen die ersten Schüsse.
Dazwischen vernahm Diego deutlich die polternden Schritte von Männern, die die Treppe heraufstürmten. Unter ihre Kommandos mischten sich die ersten Schreie panischer Frauen. Der Junge drehte sich in Richtung Tür, als ihm diese berstend entgegensprang. Zwei vermummte Gestalten stürmten mit auf ihn gerichteten Waffen in das Zimmer. Ehe er die Arme kapitulierend in die Höhe halten konnte, waren sie schon über ihm, warfen ihn zu Boden und fesselten die Hände mit Kabelbindern. Nachdem sie seinen Füßen eine ähnliche Behandlung hatten zukommen lassen, rollten sie ihn auf den Bauch und stürmten wieder hinaus. An der Tür drehte sich einer der beiden Männer um und wies ihn an, unter allen Umständen am Boden liegen zu bleiben.
Angesichts des Chaos, der hallenden Schreie und Schüsse befolgte Diego nur zu gern ihren Befehl.
Sehr viel später, als im Haus längst wieder Ruhe eingekehrt, das Hubschraubergeschwader gestartet und ein Großteil der Soldaten abgezogen war, befreiten sie Diego von seinen Fesseln. Sich die schmerzenden Handgelenke reibend, humpelte er nach draußen. Unten bot sich ihm ein Anblick der Verwüstung. Wo er in all den Jahren zuvor von der Galerie auf die riesige Wohnhalle geblickt hatte, sah er nun eine Ansammlung zertrümmerter Möbel, die kreuz und quer im Raum verteilt lagen. Sein Blick wanderte von den schief an den Wänden gerissenen Bildern zu den Einschusslöchern daneben. Dazu dieser Geruch. Es stank nach Rauch und verkohltem Fleisch.
Verunsichert stolperte er die Treppe hinab und schaute sich um. Dort, wo die massive Eingangstür gewesen war, stand ein gepanzertes Fahrzeug. Scheinbar mühelos hatte es die Tür samt angrenzender Wand durchbrochen und war erst inmitten der Halle zum Stehen gekommen.
Mit suchenden Blicken von links nach rechts schritten uniformierte Männer durch die Räume, begleitet von Schäferhunden. Unterdessen krächzte permanent irgendwo ein Funkgerät. Als Diego erschöpft und mit wackligen Beinen in die Küche ging, traf er dort auf seine Tante, die in einer Nische saß. Wimmernd hatte sie die Arme um Carmen, ihr jüngstes Kind gelegt. Wo war sein Onkel? Wo waren all die anderen? Die Tante schüttelte bloß stumm den Kopf. Der Junge ging zum Kühlschrank und griff nach einer Flasche Wasser, nahm einen Schluck und setzte sich zum kümmerlichen Rest seiner Familie.
Da erschien ein Soldat im Türrahmen. Um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, schlug er mit dem Gewehrkolben hart gegen das gesplitterte Holz. „Señora. In einer Stunde müssen Sie hier raus.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verschwand.
Eine Stunde später sollte für Diego ein neuer Lebensabschnitt beginnen.
Mit knapp fünfzehn Jahren wurde der Junge zum zweiten Mal aus Familie und Existenz gerissen. Der Unterschied war, dass das Schicksal ihn dieses Mal aus den wohlhabenden Verhältnissen des Onkels in die Slums von Medellín verbannte.
Wie von dem Soldaten angekündigt, wurden sie noch am selben Tag mit einem Militär-LKW von der Hazienda gebracht. Einen eigenen Wagen durften sie nicht nehmen. Ebenso wenig mehr Habseligkeiten, als sie in einem Koffer tragen konnten. Der Rest, der gesamte Besitz des Onkels, wurde beschlagnahmt. Die Ländereien, Fahrzeuge, Konten - alles wurde konfisziert. Für Diego brach eine Welt zusammen.
Und der Onkel selbst? Er war ohne Gegenwehr im Schlafzimmer gestellt und festgenommen worden. Zusammen mit seinem Verwalter hatten sie ihn in einen der Helis gebracht und auf eine Militärbasis geflogen, wo sie ihn festsetzten und verhörten.
Die anderen Männer waren zusammen mit den Cousins und Cousinen in einen LKW verfrachtet worden und im Dschungel verschwunden.
Warum ihm dieses Schicksal erspart blieb, sollte sich Diego noch öfter fragen. Wahrscheinlich aber hatten sie ihn einfach nur in seinem Zimmer vergessen.
Natürlich hatte sich Diego insgeheim oft gewundert, woher der Reichtum der Familie rührte. Wozu all die Bewaffneten auf der Ranch, und warum die permanenten Patrouillen? Drogengeschäfte waren eine einleuchtende
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