Borderline ein Narco-Thriller
Geschichte von Barbie
Diego war vier, als er auf die Hazienda gebracht wurde. Sie erzählten ihm, dass seine Eltern und Geschwister gestorben seien und dass er deshalb fortan bei ihnen leben würde. Von da an gab es Tante und Onkel statt Mutter und Vater, Cousins und Cousinen statt Bruder und Schwester. Es sollte vierunddreißig Jahre dauern, bis er die Wahrheit über das Schicksal seiner echten Familie erfuhr.
Sein Name war Diego, aber wenn die Kinder ihn wegen seiner langen blonden Haare ärgern wollten, nannten sie ihn Barbie.
Sie ärgerten ihn oft, und so weinte er anfangs viel, meist heimlich nachts in seinem Bett. Denn wenn die Tante seine Tränen sah, wurde sie wütend und verdrosch ihn zur Strafe mit einem Bambusrohr. Wenn die Cousins und Cousinen seine verheulten Augen bemerkten, lachten sie ihn aus oder sperrten ihn in einen Keller. Nach einer besonders kalten und langen in dem dunklen Verließ voller Angst und Insekten verbrachten Nacht beschloss der Junge, die Heulerei künftig sein zu lassen.
Während er der Tante mit ihren Wutanfällen täglich ausgesetzt war, bekam er den Onkel selten zu sehen. Er sei in der Stadt, meinten die anderen. Eine richtige Stadt?, fragte Diego, denn er kannte bisher bloß das Leben auf Farmen und in kleinen Dörfern. Da lachten sie ihn aus und verprügelten ihn. Also beschloss er, fortan auch keine Fragen mehr zu stellen.
Tagsüber, wenn die anderen Kinder in die Schule gingen, war er allein, denn begleiten durfte er sie nicht. Also verbrachte er seine Zeit mit Streifzügen durch den riesigen Garten, ging zu den Pferdestallungen oder schaute den Bediensteten beim Kochen zu.
Ich muss weit weg von zu Hause sein
, dachte er. Die Landschaft war so viel grüner. Auch regnete es mehr und war nicht so heiß wie in seiner Heimat.
Mit den Jahren lebte sich der Junge ein, dachte kaum noch an seine Eltern. In die Schule durfte er noch immer nicht, doch bald schon kam ein Lehrer, der Diego in einem eigens dafür eingerichteten Zimmer unterrichtete. Die Tante zeigte weiterhin keinerlei Zuneigung, schlug ihn aber nicht mehr. Auch die Cousins und Cousinen ärgerten ihn nicht mehr so oft. Vielleicht, weil er mit der Zeit kräftig gewachsen war. Dem Letzten, der sich mit ihm angelegt hatte, hatte er die Nase gebrochen. Barbie nannte ihn seitdem keiner mehr.
Der Onkel war jetzt häufiger auf der Ranch, immer in Begleitung einer Horde bewaffneter Männer. Er gefiel Diego, auch weil er viel netter zu ihm war als seine Frau. Er war untersetzt, mehr breit als hoch und meist gut gelaunt und nett. Zumindest den Kindern gegenüber. In seiner freien Zeit unternahm er viel mit ihnen, ab und zu durften sie sogar mit den Waffen seiner Männer schießen. Etwas, das Diego besonders viel Spaß machte.
Manchmal ritten sie auf Pferden über die Ranch oder fuhren mit den Jeeps hinaus in den Dschungel. Auf einer dieser Touren hörte Diego die Hubschrauber zum ersten Mal. Sofort ließ der Onkel alle Fahrzeuge stoppen. Unter dem dichten Blätterdach waren sie sicher vor den Blicken der Helikopterbesatzungen, die weiter in Richtung Tal flogen. Als die fliegenden Eindringliche außer Sicht waren, wendeten die Jeeps und fuhren zurück in Richtung Farm. Kurz darauf sahen sie von einer Anhöhe aus, wie dichter Rauch vom Fluss aufstieg und die Hubschrauber sich nicht weit davon entfernt in die Luft erhoben. Der Onkel fluchte bei dem Anblick laut. Etwas, dass er sonst nie tat.
Der Anblick von Hubschraubern sollte keine Seltenheit für den Jungen werden, denn von da an flogen sie häufig über das Grundstück. Einmal beobachtete Diego einen der Männer, wie er mit einem Gewehr auf einen Helikopter zielte, dann aber leider von einem Begleiter am Schuss gehindert wurde.
Mit der Zeit begann der Junge, die Geräusche der Rotoren als etwas Alltägliches wahrzunehmen. Eine Gewohnheit, die sich in den frühen Morgenstunden eines Sommertages im Jahr 1987 als trügerisch herausstellen sollte. Diego lebte inzwischen seit über zehn Jahren auf der Ranch. Die Erinnerungen an seine vorherige Existenz, die Eltern und Geschwister, waren längst verblasst. An diesem Morgen, es war eigentlich noch Nacht, wuchs das Geräusch der Rotoren zu einem fulminanten Getöse an. Schlaftrunken trat Diego an sein Fenster, blickte in die Dämmerung und schreckte zurück, als er sah, was sich draußen abspielte. Auf der Wiese vor dem Haus landeten zwei Hubschrauber, aus denen augenblicklich maskierte Soldaten in Kampfanzügen sprangen.
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