Bordeuax
ich
Weinkisten. Mein Gedächtnis war nicht so gut wie das von Francis, trotzdem
fügten sich die Dinge im Raum von ganz allein. Instinktiv stellte ich eine
Kiste hierhin, die andere dorthin, eine Kiste Pomerol neben eine Sauternes,
ohne eine besondere Ordnung im Kopf zu haben. Durch reinen Zufall, glaube ich
zumindest, stellte sich die Gruft wieder so her, wie sie ursprünglich gewesen
war, bevor Teddy Shildon sie durcheinandergebracht hatte. Es war, als würde
Francis mir ins Ohr flüstern, mir zeigen, welche Kiste auf welchen Stapel
gehört, bis alles so war wie in seiner Erinnerung. Dann setzte ich mich hin,
fand noch eine halbvolle Flasche Weißwein und goss mir ein Glas ein.
Die Kerzen waren alle ausgeblasen
und weggeräumt, und ich hatte das Deckenlicht eingeschaltet. Ich kam mir vor
wie der Küster einer Kathedrale, nachdem die Gemeinde gegangen war, wenn
wieder Stille in den Klangraum eingekehrt war, die Heiligen blind von ihren
Bleiglasfenstern blickten und die Ritter regungslos auf ihren Grabmälern
ruhten. Der Friede der Gruft umfing mich, und ich wurde ruhig, so ruhig wie
seit Tagen, seit Wochen nicht mehr.
Ich fragte mich, ob Catherine wohl
wiederkommen würde. Allerdings steckte dahinter nicht mehr die ungeheure
Angst, die ich früher empfunden hatte, die Angst, Catherine könnte mich vergessen
haben, könnte sich ganz auf Ed eingelassen und die Tür zu dem geheimen Garten,
in den ich vor Monaten an einem Frühlingsabend geschlendert war, zugestoßen
haben. Jetzt wusste ich wenigstens, dass sie mich nicht vergessen hatte.
Sollte sie versuchen, die Verlobung mit Ed zu lösen, würde der vereinte
psychische Druck der beiden Familien, der Simmonds und der Plenders, sie vermutlich
überwältigen. Was immer als Nächstes passierte, es wäre nicht zu ändern; mir
blieb nichts anderes übrig, als die Ereignisse abzuwarten.
Ich trank meinen Wein und dachte an
Francis. Für mich war er noch ganz lebendig, nicht der ausgemergelte alte Mann,
der bis vor wenigen Tagen oben in seinem Bett lag. Ich behielt Francis so im
Gedächtnis, wie er war, als ich ihn kennenlernte, groß, elegant, schweigsam.
Dieser Francis, das spürte ich, war noch immer anwesend hier unten im Keller,
beobachtete mich, blickte wohlwollend, wenn ich Catherine umarmte, führte mich,
wenn ich Weinkisten umräumte.
Ich schüttelte den Kopf. Wenn ich
mir solche Fantasien erlaubte, würde ich nicht lange durchhalten. Ich
beschloss, ein paar Flaschen Bordeaux mit nach oben zu nehmen, eine auszusuchen
und ein Glas zu trinken, während ich abwartete, ob Catherine zurückkam oder
nicht.
Ich ging nach oben in den Laden und
setzte mich an Francis' Schreibtisch, fand eine Flasche Lyche-Bages in dem Regal
an der Wand, öffnete sie und goss mir ein großes Glas ein. Zum ersten Mal wurde
mir klar, was für ein immenses Erbe ich angetreten hatte. Unten im Keller lagen
hunderttausend Flaschen, es reichte für mehr als ein ganzes Leben, selbst wenn
ich der Sammlung nichts Neues hinzufügte. Und was für Flaschen hatte ich
geerbt! Keinen Allerweltswein, keinen gewöhnlichen Supermarktwein. Jede
einzelne Flasche war mit Sorgfalt, mit Liebe, mit profunder Kennerschaft
ausgewählt. Jede einzelne Flasche war ein außergewöhnliches Erlebnis, nicht
mehr und nicht weniger. Schon der Wein, den ich gerade zu mir nahm, war
köstlich. Sein Wohlgeruch stieg mir in die Nase, stieg mir zu Kopf, ich
schenkte mir ein zweites Glas ein.
Während der Wein in mein Blut
einfloss, ich das erste Glas der zweiten Flasche probierte, fragte ich mich,
welche Wesensverwandlung hier stattfand. Ich trank die gleichen Weine, von
denen Francis gelebt hatte. Würde ich mich Francis angleichen, wenn ich sie
verzehrte und sie mir einverleibte? Würde am Ende gar Francis aus mir?
Ich musste laut lachen über mich und
goss mir noch etwas Wein nach. Ich war auf dem besten Weg, mich richtig zu
betrinken, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. Gelegentlich war es
schon mal vorgekommen, dass ich mehr Wein getrunken hatte, als ich vertrug,
wenn ich abends bei Francis saß, in den letzten Tagen seines Lebens. Mit ihm
hatte ich die Grenzen der Trunkenheit ausgelotet, jetzt drang ich weiter auf
diesem Gebiet vor.
Es war mir egal. Mein ganzes Leben
hatte sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden komplett verändert. Wenn ich
mir zur Feier dieses Übergangsritus nicht mal ein paar Gläser genehmigen
durfte, würde ich nie lernen, wie man richtig lebt.
Es wurde dunkel. Ich stand auf,
etwas
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