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Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Titel: Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Meyer zu Kueingdorf , Michel Ruge
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Freiheit, wo die Bars auch tagsüber geöffnet hatten und wo die schönen Animierdamen, die mich von klein auf kannten, auf der Straße standen. Je älter ich aber wurde, desto weniger war ich der Butsche von Oma Lilo. Es gab dann auch keine Perri mehr von den großen Mädels, sondern gleich eins aufs Maul vom Wirtschafter, wenn ich einfach so in die Bars hineinstarrte und meine Sprüche machte. Ich war nicht mehr der harmlose Butsche, sondern wurde immer mehr zu einer Bedrohung für die Platzhirsche auf dem Kiez. Die Männer auf St. Pauli hielten sich für die Krone der Schöpfung. Ich wurde allmählich ein Mann. Andauernd redete man darüber, was es bedeutete, ein Mann zu sein. »Ein Mann wird erst im Knast ein richtiger Mann! Ein Mann ist gerade! Ein Mann redet nicht, ein Mann schlägt zu. Ein Mann – ein Wort. Der steht seinen Mann.« Diese Sprüche waren wie Gebote. Als Junge hatte man das Gefühl, es gehe um etwas Heiliges. So war es schließlich auch: Männer waren die Könige auf St. Pauli. Als Freier, als Wirtschafter, als Lude. Wir wollten Männer werden, Könige sein – und das so schnell wie möglich. Noch aber waren wir nur Halbstarke – bestenfalls Bordsteinkönige.
    Jeder, der auf St. Pauli ein richtiger Mann sein wollte, musste bestimmte Rituale absolvieren. Rituale, die seit Jahrhunderten galten und um die sich viele Legenden rankten. Eines der Rituale war der Kampf. Das hatte ich also schon hinter mir. Aber es gab da noch eines, das nicht weniger wichtig war.
    Wie schon gesagt: 1982. Der Kiez stand kurz vor der Apokalypse. AIDS verängstigte Freier und Nutten. Der Virus schoss der freien Liebe und dem liegenden Gewerbe gewaltige Torpedos vor den Bug. Das alles passierte gerade dann, als ich auf dem Sprung zum Mann war. War ich sauer auf diese Welt!! Gerade, als ich anfing, ständig ans Ficken zu denken, tauchte so ein bekloppter Virus auf. Großartig!
    Mittlerweile hatte ich kapiert, dass mein Schwanz erigiert, steif, hart sein musste, um in die rosafarbene, süßlich riechende Welt der Damen eindringen zu können. Seit einiger Zeit kam die Erektion unweigerlich jeden Morgen. Ich musste nichts dafür tun. Ich hatte im Bett eine Latte. Ich hatte beim Kaffee eine Latte. Ich hatte auf dem Weg zur Schule eine Latte. Auch in der Schule hatte ich ständig eine Latte. Manchmal überfiel mich die Angst, dass ich ewig einen Ständer haben würde. Zum Glück waren Jogginghosen damals groß in Mode. Ich trug mehrere Unterhosen übereinander, die meinen Schwanz an den Körper pressen sollten, damit ich nicht immer mit einer Beule in der Hose herumlaufen musste. Ich konnte mich schon gar nicht mehr konzentrieren, weil ich ständig diese Latte hatte. Die einzige Erlösung gab es, wenn ich auf die Toilette ging. Dann verschwand der Ständer. Alles wurde schlaff, zumindest für ein paar Minuten. Ich atmete tief durch. Doch nach ein paar Minuten stand er wieder. Mir kam es vor, als wäre mein Schwanz die Nadel eines Kompasses, der immer in Richtung St. Pauli zeigt.
    Es schien so, als wäre ich bereit, das erste Mal ein Mädchen zu lieben. Ganz egal, wie sie aussah. Irgendeine. Hauptsache, ich hätte es endlich getan. Das hätte nämlich auch bedeutet, dass ich mir keine Sorgen mehr darüber machen musste, ob ich vielleicht schwul sei. Schwulsein auf St. Pauli – unterste Kante!
    »Bissu schwul, oda was?«, hieß es oft, wenn man jemandem doof kam auf dem Kiez. »Was für eine schwule Ratte, dieser schwule Wichser, schwul, alle schwul!«, schimpfte Kalle, wenn er sich über irgendwen geärgert hatte. Wenn mir jemand mit »Bissu schwul, oda was?« kam, gab’s als Antwort darauf etwas, das körperliche Folgen hinterließ. »Schwul« war das Schimpfwort. Um nichts in der Welt wollte ich schwul sein. Es mag seltsam klingen, aber das war es, womit man sich als Teenager auf St. Pauli beschäftigte. Die Angst, schwul zu sein, war groß. Also versuchte man, so schnell wie möglich ein Mädchen klarzumachen, damit man über jeden Zweifel erhaben war.
    Damals war Kemal einer meiner guten Kumpel. Wenn jemand mit mir Streit hatte, dann hatte er auch mit Kemal Streit – und umgekehrt. Das war Ehrensache! Wir waren fast wie Brüder. Eines Tages nahm er mich mittags mit zu zwei Freundinnen. In einer großen, aber bieder eingerichteten Wohnung trafen wir Ulrike und Sandra, beides schöne dreizehnjährige Mädchen. Die Eltern waren auf der Arbeit. Sie lächelten uns an, und schneller als ich entscheiden konnte,

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