Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
geschlagen. Als ich ein paar Moves macht, wich er aus. »Mach ihn fertig«, schrien die Jungs. »Aller, kick ihn weg! Mach Chop Suey aus ihm! Los, Michel! Hau ihm mal richtig eine rein!«
Marco stand regungslos vor mir. Er wusste, dass das alles erst ein Ende hatte, wenn er am Boden lag und winselte. Ich holte aus, setzte zu einem gedrehten Backkick an. Den konnte ich ganz gut. Doch ich trat ins Leere. Stattdessen erwischte ich ihn aus Versehen mit meiner Rückhand. Während Marco rückwärtsstolperte, gab ich ihm einen weiteren Kick. Er fiel und keuchte.
»Alles klar, Michel. Lass ihn leben.« Ümet hatte sich zwischen uns gestellt. Ümet lächelte stolz, siegesgewiss. Marco hockte am Boden und schwieg. Er schien froh zu sein, dass der Kampf vorbei war. Ich hingegen war unzufrieden mit meinem Auftritt. Die Kicks und Schläge hatten nicht die gewünschte Wirkung gezeigt. Gut, ich hatte ihn besiegt. Aber Marco hatte sich nicht wirklich gewehrt. Außerdem standen neunundfünfzig Breaker als Unterstützung hinter mir. Es war kein fairer Kampf gewesen. Kein Kampf Mann gegen Mann. In dem Augenblick machte sich eine tiefe Leere in mir breit. Ich wollte ein Kung-Fu-Kämpfer sein. Aber ein Kung-Fu-Kämpfer zu sein, wenn dein Gegner kein Kung-Fu konnte, war auch nicht leicht. Ein Kampf wird nicht nur durch deine Stärke und Fähigkeiten schön, sondern auch durch die deines Gegners.
Auf dem Heimweg sagte ich kein Wort. Mir war es vollkommen egal, ob wir mit sechzig Mann die Straßen kontrollierten. Einige der Jungs versuchten mich aufzumuntern, klopften mir auf die Schulter. »Gut gemacht, Michel!« – »Dem hast du es richtig gezeigt.« – »Der wird sich nicht noch mal so was trauen, wenn er sich erholt hat.« Mir war das alles egal. Als wir wieder auf unserem Spielplatz waren, berauschten sich die anderen noch weiter an dem Ausflug zu den Red Tampons. Nur ich saß auf einer Schaukel und blickte in den Sand. Ümet kam mich auf zu. »Michel, mach dir keine Sorgen. Du bist noch jung. Du wirst deine Chance bekommen. Je öfter du dich schlägst, desto besser wird’s. Du bist gut, und du wirst der Beste, das weiß ich!«
Als es anfing zu regnen, verabschiedete ich mich und trottete in Richtung Kiez. Auf der Reeperbahn traf ich zufällig Claudia. »Hey, Michel«, rief sie und strahlte mich aus ihrem verregneten Gesicht heraus an. In dem Augenblick, als ich sie sah, schien aller Frust vergessen. Wir liefen schnell durch den Regen und fanden Schutz in einem Holzhäuschen auf einem anderen Spielplatz. Da saßen wir nun, schweigend. Der Regen trommelte von allen Seiten gegen unser Versteck.
»Glaubst du an Gott?«, fragte Claudia plötzlich.
»An Gott? Keine Ahnung. Ich weiß nichts über ihn.«
»Hier, nimm!« Sie streckte mir ihre Hand entgegen. Ein goldenes Kruzifix. Ich war baff. Claudia, meine große Liebe, schenkte mir ein goldenes Kruzifix.
»Wenn du nicht an Gott glaubst, kannst du auch keine Kraft schöpfen, wenn du sie brauchst. Das wird dir helfen.«
»Okay«, stammelte ich, »okay.« Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen.
Ich hielt das Kruzifix in der Hand und schaute es an. Wir saßen weiter schweigend nebeneinander. Mehr als eine Stunde hörten wir dem Regen zu. Dann kam die Sonne wieder und wärmte unsere Gesichter.
»Danke!« Mehr sagte ich nicht zum Abschied. Claudia schien die ganze Zeit schon gespürt zu haben, dass ich mitgenommen und enttäuscht war, obwohl ich ihr nichts erzählt hatte. Egal, wie jung sie noch war oder wie aggressiv sie manchmal auftrat, sie war ein Mensch voller Liebe und Zuneigung.
10 Der Mülleimer war voll mit Kondomen, das Geschäft lief gut
A ls Butsche nahm mich meine Oma häufig mit auf die Reeperbahn und führte mich bei ihren Bekannten ein. Meine Oma kannten alle. Sie war so was wie die gute Seele vom Kiez. Ihre Haare ließ sie sich bei einem Frisör im Eros-Center machen – so kam ich das erste Mal dorthin. Dreimal die Woche gingen wir zur Konditorei Möller, Torte essen. »Na, Lilo!«, sagte die Verkäuferin dann zu meiner Oma – sie wurde von allen nur »Lilo« oder »Oma Lilo« genannt –, »wie isses?« Meine Oma antwortete hamburgisch-kühl: »Mutt, mutt.« Bei Möllers traf sie häufig Bekannte. »Na, watt macht die Wirtschaft so?«, fragte sie ein älteres Ehepaar, das gleich ums Eck ein Bordell hatte. »Mutt, mutt!«, antworteten die beiden.
Als Junge war ich am liebsten allein auf dem Kiez unterwegs – vor allem auf der Großen
Weitere Kostenlose Bücher