Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
Gegner weghaust.« »Genau«, raunten die anderen im Chor. Mir stockte der Atem. Ich hatte mich noch nie wirklich geschlagen. Ich hatte Leute geschubst, an den Haaren gezogen, zu Boden gerungen oder sie in den Schwitzkasten genommen. Aber das war alles Kinderkacke. Ich war mir nicht sicher, ob Kung-Fu gegen einen Schläger half, der mit allen Tricks und Sauereien des Straßenkampfes gewaschen war. »Okay«, sagte ich. »In der Eggerstedtstraße wollen wir den Red Tampons aufs Maul hauen. Die sind schon seit längerem frech«, sagte Ümet. Von den Red Tampons hatte ich bereits gehört. Entweder konnten die kein Englisch oder die hatten einen schrägen Humor. »Wer so einen beschissenen Namen hat, der verdient es auch nichts anders. Alles klar. Bin dabei.« Was blieb mir anderes übrig.
Ich hielt mich tatsächlich für den Kung-Fu-Meister von St. Pauli. Die Red Tampons sollten richtig was an die Backen kriegen. Ich trainierte zwar erst seit ein paar Monaten, aber ein bisschen was hatte ich doch schon gelernt. Außerdem kannte ich jede Menge Kung-Fu-Filme. Mein Selbstbewusstsein als Kung-Fu-Experte versiegte aber so schnell, wie es aus den Tiefen meines Ichs gesprudelt war. Scheiße. Ich soll mich hauen?!, dachte ich. Mir wurde übel. Dennoch versuchte ich einen Ausdruck der Entschlossenheit auf mein Gesicht zu zaubern. »Gut!«, sagte Ümet. »Ich wusste, dass wir uns auf dich verlassen können.« Ich war kurz davor, mich zu übergeben.
Unsere kleine Armee setzte sich in Bewegung. Wie ich diese Märsche durch den Kiez genoss. Hier waren wir! Die Breakers! Wollt Ihr eins auf die Fresse? Wie immer stießen auf dem Weg noch weitere Breakers zu uns. Wir waren jetzt sechzig, vollgepumpt mit Selbstbewusstsein und halbstarken Gedanken. Das Ziel der Attacke sollte ein gewisser Marco sein, erklärte mir Ümet. Beim Billard hatte er einen von uns übel beleidigt. Es war also klar, dass wir den Red Tampons eine blutige Überraschung bereiten würden. »Die werden die Breakers nie wieder vergessen«, stellte Ümet in seiner ruhigen Art fest. »Und du, Michel, wirst uns dabei helfen. Ich setze auf dich. Und du wirst mich nicht enttäuschen.« Er klopfte mir auf die Schulter, dass mir das Herz in die Hose rutschte. Mein Gewissen biss mich. Und ich schämte mich dafür. Ich kam mir vor wie einer der Spießer in der Schule. Aber ich wollte keiner von denen sein, die den Schwanz einziehen! Also sagte ich: »Ümet, kannst dich auf mich verlassen.«
»Aller, ich fühle mich wie Moses, der die Juden durch Ägypten führt«, sagte ich zu meinen Nebenmann, während wir durch den Kiez zogen. Es sollte ein Witz sein. Aber er lachte nicht. Er starrte mich reglos an. Das Adrenalin stieg uns zu Kopf. Unser Übermut steigerte sich ins Grenzenlose. Aus den Boxen des Ghettoblasters schepperte Sly & the Family Stone und kündigte allen unser Kommen an. Wie in einem Musikvideo bewegten sich viele im Takt, sangen mit. Ich trug meine dreckige, viel zu enge Jeans und Boxerstiefel. Eine Bomberjacke hatte ich noch nicht. Meine Haare waren lang und glatt. Ein sauber gekämmter Mittelscheitel brachte die entsprechende Ordnung auf den Kopf. Ein leichter Flaum auf der Oberlippe sollte belegen, dass es sich bei mir um einen richtigen Mann handelte. Ein ordentlicher Aufmarsch für eine kleine Sache, dachte ich. Doch es war keine kleine Sache. Es ging um die Ehre eines Breakers!
Rote Ampeln galten für uns nicht. Wir marschierten, wie wir wollten, über Kreuzungen und durch Straßen. Wir gaben die Regeln vor, nicht die Straßenverkehrsordnung. Kein Autofahrer wagte es zu hupen. Hinter den Windschutzscheiben sah ich nur erstaunte Gesichter mit Respekt in den Augen. Die Straße gehörte uns. »Everybody is a star«, dröhnte aus dem Blaster, mein Lieblingslied. Ich war high. Ich war unbesiegbar, sowieso. Mein Körper bewegte sich im Takt der Musik. Schweißperlen standen mir auf der Stirn. Angst vermischte sich mit der protzigen Unbändigkeit eines Halbstarken, mit Abenteuerlust und dem Gefühl der Unbesiegbarkeit. Ich tanzte zu dem Typen mit dem Blaster, drehte die Lautstärke bis zum Anschlag. Das ganze Viertel sollte uns hören.
Diese Märsche waren ein Ritual. Sie machten uns heiß, schweißten uns zusammen, gaben uns Mut, bereiteten uns auf die Schlacht vor. Und sie flößten unseren Gegnern Angst ein. Ich fühlte mich leicht. Meine Brüder waren bei mir. Nichts und niemand konnte uns etwas anhaben. Wir erreichten Altona, die Alsenstraße. Die Leute
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