Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
los, Oma. Geld verdienen.«
»Du Spinner!« Das sagte meine Oma oft, ganz hamburgisch mit dem spitzen Stein.
Ich machte mich auf den Weg nach Hause. Seit ein paar Wochen hatte ich meine erste eigene Wohnung. Nach der Geschichte mit Melanie war ich bald wieder aus der WG ausgezogen und hatte eine Zeitlang wieder in Wladimirs Kommune übernachtet, bevor ich mir dann selbst etwas gesucht hatte.
Als ich die Treppe hochkam, wartete bereits mein Nachbar Volker auf mich. »Hey, Michel! Da haben heute ein paar Typen bei dir geklingelt. Die wollten erst auf dich warten, sind dann aber abgezogen.«
»Weißt du, was die wollten?«
»Nee, Michel. Keine Ahnung. Aber die sahen nicht so aus, als wollten sie dir ein Weihnachtsgeschenk bringen. Da war auch so ’n großer Blonder dabei.«
Ein großer Blonder? Ich dachte nach. Wer könnte es gewesen sein? In letzter Zeit hatte ich mir nichts zuschulden kommen lassen – nahm ich zumindest an. Die Sachen mit dem Hasch hatte ich fast schon wieder vergessen.
Einige Zeit später wurde ich nachts aus dem Schlaf gerissen. Jemand hämmerte an die Tür. Das waren sicher keine Freunde, die nur jemanden zum Reden brauchten. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Ich versuchte ganz still zu sein. Die Messer waren in der Küche. Bis dahin musste ich über die Dielen, die immer laut knarzten. Ich wartete, mein Herz schlug wild. Eine halbe Stunde verging. Es war nichts mehr zu hören. Ganz langsam bewegte ich mich zum Fenster, vorsichtig lugte ich hinaus. Es war nachtstill. Die Laternen brannten und tauchten die Straße in ein diesiges, orangefarbenes Licht. Ich überlegte, wer die Typen gewesen sein könnten, die mich so dringend sehen wollten. Ich dachte an die Begegnungen der vergangenen Wochen, an die Lady, an den Deal, den Geschäftsmann. War es die Sache mit dem Deal? Schließlich hatten wir das Hasch den Kommunarden geklaut. Und Wladimir konnte nicht gut dichthalten. Der machte sich schon in die Hose, wenn ihn jemand anschrie.
Langsam ging ich zur Tür und horchte. Nichts. Ich zog mich an und lief durch den Kiez. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Die Reeperbahn entlang, überall Lichter, die Nutten, eine Wirklichkeit, die mal meine Traumwelt gewesen war. Es war kühl. Es zog mich in Richtung Hafen. Ich überprüfte Autotüren. Ein VW war nicht abgeschlossen. Leise öffnete ich ihn, legte mich auf die Rückbank und schlief ein. Die ersten Sonnenstrahlen weckten mich. St. Pauli erwachte, aber ich wollte einfach nur schlafen. Ich wusste, dass meine Oma Nachtschicht hatte, also ging ich zum Budapester Hof. Das Hotel war mein Zuhause, hier war ich gewickelt worden. Hier war ich aufgewachsen. Ich schlief ein paar Stunden. Beim Frühstück traf ich einen Mann, den ich nur als Herrn Köster kannte. Er war Dauergast im Hotel, seit Jahren. Während des Zweiten Weltkriegs sei er Offizier gewesen, hieß es. Niemand wusste, warum er im Hotel lebte und woher er das Geld hatte. Wir redeten: über St. Pauli, über die Frauen, das Leben.
Ich lief zur Telefonzelle, rief Wladimir an. Seine Mutter ging ran, er war nicht da. Ich ging auf den Kiez. Nach Hause wollte ich nicht. Ich wollte wissen, wer mich suchte. Im Jugendzentrum traf ich auf die Champs. Zumindest das, was noch von ihnen übrig war. Viele hatten sich ins Milieu orientiert. Es war die Zeit, als das Phänomen Gangs allmählich verschwand. Jede Zeit hat ihre Jugendkultur – und jede Jugendkultur ihre Zeit. Wir schnackten, erzählten ein paar Witze, lachten zusammen wie früher. Aber früher war lange her. Wie zum Abschied schlenderten wir gemeinsam über den Kiez. Eine Menge hatte sich verändert. Wir hatten uns verändert.
Kemal erzählte mir, dass Cem wegen Mordes im Gefängnis gelandet war. Ich hatte immer geahnt, dass es mit Cem kein gutes Ende nehmen würde. Bevor wir uns verabschiedeten, zeigte Kemal mir noch seinen neuen Mercedes. Kemal und ich, wir hatten zusammen bei den Breakers angefangen. Jetzt war klar, dass wir uns vielleicht nie mehr wiedersehen würden. Ich spazierte in Richtung DOM, wo wir früher unsere Breakdance-Wettkämpfe ausgetragen hatten. Ich kaufte mir eine Packung gebrannte Mandeln, stand im Rausch der Karussellgeräusche und der Musik. Alles drehte sich.
Ein paar Minuten muss ich dort so gestanden haben, vollkommen weggetreten, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte. Ich drehte mich um und sah: Ümet. Ich traute meinen Augen nicht. Wie viele Jahre hatte ich ihn nicht mehr gesehen?
»Hey, Michel.
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