Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
eine Grippeimpfung: In diesen vier Jahren gewann sie 20 Rennen und wurde nur einmal Zweite, als sie ein 60-Meilen-Rennen in einem Zustand bestritt, in dem sie eigentlich mit Taschentüchern und einer Tasse Suppe auf dem Sofa hätte sitzen sollen.
Natürlich gab es eine verwundbare Stelle in ihrer Rüstung. Es musste so etwas geben. Nur … hat sie niemand je gefunden. Ann glich einem Zirkuskraftathleten, der es in jeder Stadt mit dem stärksten Burschen aufnimmt: Sie gewann auf der Straße und querfeldein … auf ebenen Wegen und auf rauen Bergstrecken … in Amerika, Europa und Afrika. Sie pulverisierte Weltrekorde über 80 Kilometer (50 Meilen), 100 Kilometer und 160 Kilometer (100 Meilen) und stellte auf Bahn und Straße zehn weitere Weltbestleistungen auf. Sie qualifizierte sich für das Olympiamarathon-Ausscheidungsrennen und holte sich den World Ultra Title mit einer Durchschnittszeit von 6 Minuten und 44 Sekunden pro Meile auf der 100 Kilometer langen Strecke, und dann gewann sie in ein und demselben Monat noch Western States und Leadville.
Nur ein Preis glitt ihr immer wieder durch die Finger: Ann gelang es jahrelang nicht, bei einem bedeutenden Ultramarathon auch die Gesamtwertung zu gewinnen. Bei zahlreichen weniger bedeutenden Rennen hatte sie jeden Mann und jede Frau im Feld geschlagen, aber wenn es bei den wichtigsten Rennen um die Entscheidung gegangen war, hatte ihr immer mindestens ein Mann ein paar Minuten abgenommen.
Das sollte ein Ende haben. Im Jahr 1994 war sie sich sicher, dass ihre Zeit gekommen war.
12
Das seltsame Geschehen setzte ein, als Rick Fishers staubiger Chevy vor dem Rennbüro in Leadville vorfuhr und zwei Männer in weißen Zauberercapes ausstiegen.
»Hallo!«, rief Ken Chlouber, als er zur Begrüßung aus dem Haus trat. »Die Rennteufel sind da!« Ken streckte seine Hand aus und versuchte sich an den Willkommensgruß zu erinnern, den ihm der Spanischlehrer in der Highschool beigebracht hatte.
»Äh … Bee en benny …«, setzte er an.
Einer der Männer mit den Capes lächelte und streckte seinerseits die Hand aus. Plötzlich drängte sich Fisher zwischen die beiden.
»Nein!«, rief Fisher. »Man darf sie nicht auf kontrollierende Art berühren, oder man wird es bereuen. In ihrer Kultur gilt das als kriminelles Vergehen.«
Was zum … Ken spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Willst du mal ein kriminelles Vergehen sehen, Freundchen? Dann fass mich nochmal am Arm an . Fisher hatte todsicher noch kein Händedruckproblem, als er Ken damals um ein kostenloses Quartier für seine Leute anbettelte. Und jetzt, mit einem Sieg und Rockport-Sponsorengeld in der Tasche, sollte alle Welt sie wie die Könige behandeln? Ken hatte gute Lust, seinen Kontrahenten kräftig in den Hintern zu treten, aber dann kam ihm etwas in den Sinn, das ihn durchatmen, sich entspannen und den ganzen Vorgang als Nervensache deuten ließ.
Annie muss ihn richtig nervös machen, dachte Ken. Vor allem die Art, wie die Medien diese Sache aufbauschen .
Die Berichterstattung hatte sich dramatisch verändert, seit Ann ihre Teilnahme in Leadville bestätigt hatte. Anstatt zu fragen, ob die Tarahumara gewinnen würden, beschäftigten sich die Medien jetzt damit, ob Rick Fishers Team wohl – ein zweites Mal – erniedrigt werden würde. »Bei den Tarahumara gilt es als Schande, gegen eine Frau zu verlieren«, war in den Artikeln ein ums andere Mal zu lesen. Es war eine unwiderstehliche Geschichte: Die schüchterne Lehrerin für Naturwissenschaften nahm unerschrocken Kurs auf die Rocky Mountains und kämpfte dort mit den mexikanischen Indio-Machos und allen anderen, Männern wie Frauen, die ihrem Sieg in einem der bedeutendsten Wettkämpfe in dieser Sportart im Weg standen.
Natürlich gab es für Fisher eine Möglichkeit, den Druck der Medien auf die Tarahumara abzufedern: Er konnte den Mund halten. Niemand hatte bis dahin vom Tarahumara-Machismo gesprochen, erst Fisher hatte das mit seinen Äußerungen gegenüber Reportern zum Thema gemacht. »Sie verlieren nicht gegen Frauen«, sagte er. »Und sie haben es auch diesmal nicht vor.« Das war eine faszinierende Enthüllung – vor allem für die Tarahumara, die nicht gewusst hätten, wovon er redete.
Die Tarahumara sind in Wirklichkeit eine außerordentlich egalitäre Gesellschaft. Die Männer gehen freundlich und respektvoll mit den Frauen um, und dass sie, wie die Frauen, Kleinkinder auf dem Rücken tragen, ist ein üblicher Anblick. Männer und Frauen
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