Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
ihre Zigaretten auf und reihten sich vor dem Gerichtsgebäude von Leadville verlegen unter die anderen Läufer ein, genau an dem Ort, wo man einst die Pferdediebe gehängt hatte. Inmitten der Umarmungen und des allgemeinen Händeschüttelns, das bei den anderen Läufern aufgrund der »Wir-Todgeweihten«-Kameradschaftlichkeit üblich war, sahen die Tarahumara einsam und verlassen aus.
Manuel Lunas freundliches Lächeln verschwand, und seine Gesichtszüge wurden hart wie Eichenholz. Juan Herrera korrigierte den Sitz seiner Rockport-Mütze und trat von einem Fuß auf den andern, er trug seine neuen, 110 Dollar teuren, knallgelben Rockports mit der dicken Hikingstiefelsohle. Martimano Cervantes verkroch sich in dieser eiskalten Nacht in den Rocky Mountains ganz in sein Cape. Ann Trason stellte sich vor ihnen allen auf, machte Lockerungsübungen und starrte in die Dunkelheit, die vor ihnen lag.
13
Wer seinen Körper mehr liebt als die Herrschaft über das Reich, dem kann das Reich anvertraut werden.
Lao-tse, Tao-te-king
Dr. Joe Vigil, eine 65 Jahre alte Ein-Mann-Armee, wärmte sich die Hände an seinem Kaffeebecher, während er auf die ersten Taschenlampenlichter wartete, die durch den Wald auf ihn zukamen.
Kein anderer Spitzencoach der Welt war auch nur irgendwo in der Nähe von Leadville, weil sich kein anderer Spitzencoach darum scherte, was in diesem gigantischen Freiluftirrenhaus in den Rocky Mountains vor sich ging. Selbstverstümmler, Mordstypen oder wie auch immer sie sich nennen mochten – was hatte das mit richtigem Laufen zu tun? Mit olympischem Laufen? Die meisten Lauftrainer aus der Stadionleichtathletik ordneten die Ultralangstreckenläufe irgendwo zwischen Wettessen und Freizeitsport-SM ein.
Super, dachte Vigil, während er sich die Füße vertrat, um der Kälte zu trotzen. Macht nur weiter so, schlaft und überlasst mir die Freaks – weil er wusste, dass die Freaks etwas zu bieten hatten.
Vigils Erfolgsgeheimnis war schon an seinem Namen abzulesen: Kein anderer Coach war wachsamer als er, wenn es darum ging, die entscheidenden kleinen Einzelheiten aufzuspüren, die allen anderen entgangen waren. Das war in seinem ganzen Wettkampfleben so gewesen, schon seit der Zeit, als er, der schwächliche Latinojunge, versuchte, Highschool-Football in einer Liga zu spielen, in der es nicht viele Latinos gab – und schon gar keine schwächlichen. Rein körperlich konnte es Joe Vigil mit den Fleischbergen auf der anderen Seite der Linie nicht aufnehmen, also setzte er seinen Kopf ein; er studierte die Geheimnisse der Hebelwirkung, der Antriebskraft und des Timings, er überlegte sich geeignete Fußstellungen, sodass er aus einer gebückten Haltung wie ein gefederter Amboss emporschoss. Zur Zeit seines Collegeabschlusses war aus dem schwächlichen Latinojungen ein erfolgreicher Guard und Ligaauswahlspieler geworden. Dann wandte er sich dem Laufsport zu, und mit seiner unermüdlichen Spürnase wurde er zum bedeutendsten Experten für den Langstreckenlauf, den Amerika je hervorgebracht hat.
Vigils Wissensdrang in der vergessenen Kunst des Langstreckenlaufs brachte ihm einen Doktortitel und zwei Magistergrade ein und führte ihn weit in die entlegensten Gebiete Russlands hinein, hoch hinauf in die peruanischen Anden und ins Rift-Valley-Hochland in Kenia. Er wollte wissen, warum russische Sprinter im Training erst mit dem Laufen beginnen dürfen, wenn sie barfuß von einer sechs Meter hohen Leiter springen können, wie 60 Jahre alte Ziegenhirten in Machu Picchu es fertigbringen, mit Hungerrationen, die aus Joghurt und Kräutern bestehen, die Berge der Anden hochzusteigen, und wie die von Suzuki-san und Koide-san trainierten japanischen Läufer langsames Gehen auf rätselhafte Art und Weise in schnelle Marathonläufe umwandeln können. Er hatte die alten Meister aufgespürt und ihr Wissen angezapft, hatte ihre Geheimnisse aufgesaugt, bevor sie sie mit ins Grab nahmen. Sein Kopf war eine komplette, mit Laufwissen bestückte Library of Congress. Ein großer Teil davon war in den Herkunftsgebieten verlorengegangen, aber in seinem Gedächtnis war es bewahrt.
Seine Forschungsarbeit trug sensationelle Früchte. Vigil übernahm an seiner Alma Mater, am Adams State College in Alamosa in Colorado, das dahinsiechende Querfeldeinprogramm und machte es zum Schrecken der Konkurrenz. Querfeldeinläufer von Adams State gewannen innerhalb von 33 Jahren 26 nationale Titel, und zu diesen Erfolgen zählte auch die beeindruckendste
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