Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
oder ein Nebel, der über die Berge hinwegzieht.«
Die Tarahumara waren diesmal keine zwei einsamen Stammesbrüder, die sich in der Menge der Olympioniken verloren. Sie waren keine fünf verwirrten Dorfbewohner in schrecklichen Chucks, die nicht mehr gelaufen waren, seit man eine Straße zu ihrem Dorf gebaut hatte. Diesmal bildeten sie eine Formation, an die sie von Kindesbeinen an gewohnt waren, die klugen Veteranen übernahmen die Führung, und die eifrigen Jungspunde machten ihrerseits kräftig Tempo aus der zweiten Reihe. Sie waren trittsicher und selbstsicher. Sie waren Die Fußläufer.
Mittlerweile hatte sich ein paar Häuserblocks von der Ziellinie entfernt ein ganz anderer Ausdauerwettbewerb entwickelt. Jedes Jahr versammeln sich die Partygänger von Leadvilles Sixth Street und versuchen das ganze Wochenende über, den Läufern auf ihre Art Konkurrenz zu machen. Das beginnt bereits mit dem Startschuss, und dann wird bis zum offiziellen Rennschluss, 30 Stunden später, munter weitergetrunken. Neben dem Konsum von »Jäger-« und »Jello-Shots« nehmen die Feiernden noch eine wichtige Beraterfunktion wahr: Ihre Aufgabe ist es, die Zeitnehmer am Zieleinlauf zu alarmieren, indem sie einen Höllenlärm veranstalten, sobald sie den ersten Läufer aus der Dunkelheit auftauchen sehen. Diesmal hätten es die Zecher fast vermasselt. Der alte Victoriano und Cerrildo huschten um zwei Uhr morgens so flink und lautlos an ihnen vorbei – »ein Nebel, der über die Berge hinwegzieht« -, dass sie fast unbemerkt geblieben wären.
Victoriano war als Erster im Ziel, und Cerrildo lag unmittelbar hinter ihm. Manuel Luna, dessen neue Sandalen bei Kilometer 134 auseinandergefallen waren, sodass er mit ungeschützten, blutenden Füßen weiterlaufen musste, schaffte dennoch den felsigen Pfad um den Turquoise Lake herum und kam als Fünfter ins Ziel. Der erste Zielankömmling, der nicht zum Team Tarahumara gehörte, lag fast eine Stunde hinter Victoriano – was einem Abstand von knapp zehn Kilometern entspricht.
Die Tarahumara hatten sich nicht nur vom letzten auf den ersten Platz vorgearbeitet; sie hatten auch ein neues Kapitel in der Rekordstatistik aufgeschlagen. Victoriano war der älteste Sieger in der Geschichte des Rennens, der 18 Jahre alte Felipe Torres war der jüngste Läufer, der bis dahin das Ziel erreichte, und das Team Tarahumara wurde zur einzigen Mannschaft, die drei der ersten fünf Plätze belegte – obwohl die beiden besten Läufer zusammen fast 100 Jahre zählten.
»Es war verblüffend«, sollte ein schwer zu verblüffender Teilnehmer namens Harry Dupree später der New York Times sagen. Dupree war zwölfmal in Leadville angetreten, und mit dieser Erfahrung glaubte er, bei diesem Rennen könne ihn nichts mehr überraschen. Dann sah er, wie Victoriano und Cerrildo an ihm vorbeizogen.
»Da kamen diese kleinen Burschen mit Sandalen, die sich auf dieses Rennen überhaupt nicht vorbereitet hatten. Und sie ließen einige der besten Langstreckenläufer der Welt einfach stehen.«
11
»Ich hab’s dir gesagt!«, krähte Rick Fisher.
Er hatte auch in einem anderen Punkt Recht behalten: Plötzlich hatte alle Welt Interesse an Den Fußläufern. Fisher versprach, das Team Tarahumara werde im nächsten Jahr wiederkommen, und das war der Zauberstab, der Leadville von einem kaum bekannten Mörderthon zu einem größeren Medienereignis machte. ESPN sicherte sich die Übertragungsrechte; Wide World of Sports brachte eine Sondersendung zum Thema »Wer sind diese Superläufer?«; Molson-Bier wurde zum Sponsor von Leadville. Rockport Shoes wurde sogar zum offiziellen Ausrüster des einzigen Läuferteams der Welt, das Laufschuhe verabscheute.
Reporter der New York Times, von Sports Illustrated, Le Monde, Runner’s World und anderen Blättern stellten Ken immer wieder dieselbe Frage:
»Kann irgendjemand diese Jungs besiegen?«
»Ja«, gab Ken zurück. »Annie kann das.«
Ann Trason. Die 33 Jahre alte Lehrerin für Naturwissenschaften an einem kalifornischen Communitycollege. Wer behauptete, sie aus einer Menschenmenge herausfinden zu können, war entweder ihr Ehemann oder ein Lügner. Ann war eher klein, eher schmächtig, eher nachlässig gekleidet und zurechtgemacht und hinter ihren braunen Ponyfransen eher unsichtbar – sie entsprach in etwa dem, was man von einer Lehrerin für Naturwissenschaften an einem Communitycollege erwartete. Bis jemand eine Startpistole abfeuerte.
Ann beim Start eines Rennens lossausen zu
Weitere Kostenlose Bücher