Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Rücken bildet; muss sich unbedingt kühles Wasser gönnen, einen salzigen Imbiss, und man muss sich ehrlich und häufig auf den eigenen Zustand überprüfen. Was könnte sinnlicher sein, als ganz genau auf den eigenen Körper zu achten? Sinnlichkeit zählte zu den romantischen Gefühlen, nicht wahr?
Nur so zum Spaß brachte Ann sehr viel mehr Kilometer hinter sich als viele ehrgeizige Marathonläufer, also dachte sie im Jahr 1985, jetzt sei die Zeit gekommen, um sich mit einigen ernsthaften Läufern zu vergleichen. Vielleicht beim L. A. Marathon? Gähn. Wenn sie drei Stunden mit dem Umrunden von Häuserblocks zubrachte, konnte sie genauso gut auf die Hamsterrennbahn hinter der Highschool zurückkehren. Sie wollte ein Rennen, das so wild und spaßig war, dass sie sich ganz darin verlor, so wie sie das bei ihren Ausflügen in die Berge erlebte.
Das sieht mal interessant aus, dachte sie, als ihr eine Anzeige in einer lokalen Sportzeitschrift auffiel. Der American River 50-Mile Endurance Run war mittlerweile, wie Western States, ein Pferderennen ohne Pferde, ein Querfeldeinstreifzug auf einer Strecke, die früher von verwegenen ländlichen Reitern genutzt worden war. Der Weg ist heiß, hügelig und riskant. (»Am Wegrand wachsen Gifteichen«, heißt es in den Informationen für die Läufer. »Sie können auch auf Pferde und Klapperschlangen treffen. Es empfiehlt sich, beiden aus dem Weg zu gehen.«) Ist man den Giftzähnen und Hufen entronnen, erwartet einen vor dem Ziel noch ein letzter Schlag ins Gesicht: Nach mehr als 75 Kilometern auf Fußpfaden ist auf den letzten fünf Kilometern ein Anstieg um 300 Höhenmeter zu bewältigen.
Zur Wiederholung noch einmal: Anns erstes Rennen sollte ein Doppelmarathon sein, bei dem man unter einer glühend heißen Sonne auf Schlangen und giftige Sträucher zu achten hatte. Nein, Langeweile drohte hier nicht.
Und Anns Ultramarathondebüt begann miserabel, was keine Überraschung war. Das Thermometer stieg auf Saunatemperaturen, und sie war ein viel zu unerfahrener Neuling, um auf den Gedanken zu kommen, dass das Mitführen einer Trinkflasche an einem 42 Grad Celsius heißen Tag eine gute Idee sein könnte. Sie hatte keine Ahnung, wie man sich ein Rennen einteilen konnte (würde sie vielleicht sieben Stunden brauchen? Zehn? Dreizehn?), und wusste noch weniger über Taktik beim Querfeldeinlauf. (Diese Typen, die bergauf marschierten und bergab an ihr vorbeirauschten, gingen ihr wirklich auf den Geist. Lauf wie ein Mann, verdammt noch mal!)
Aber sobald sich der Bammel des Neulings legte, verfiel sie wieder in ihren Wiege-Schaukel-Schritt. Sie reckte den Kopf, die Ponyfransen flogen beiseite, und sie spürte wieder dieses Raubkatzen-Selbstvertrauen. Kurz vor der 50-Kilometer-Marke plagten sich Dutzende von Läufern durch die feuchte Hitze und fühlten sich dabei, als säßen sie in einem frisch gebackenen Muffin fest. Aber Ann, obwohl stark ausgetrocknet, schien immer nur stärker zu werden. So stark, dass sie tatsächlich alle anderen Frauen im Feld besiegte, den Streckenrekord für Frauen brach und bei einem 80-Kilometer-Geländelauf nach sieben Stunden und neun Minuten ins Ziel kam.
Dieser schockierende Sieg war der Beginn einer einmaligen Serie. Ann gewann den Frauenwettbewerb beim Western States 100 – die Super Bowl des Querfeldeinlaufs – vierzehn Mal und stellte damit einen Rekord auf, der drei Jahrzehnte umfasst und Lance Armstrong mit seinen belanglosen sieben Siegen bei der Tour de France wie eine Eintagsfliege aussehen lässt. Wie eine verhätschelte Eintagsfliege obendrein: Lance trat niemals in die Pedale, ohne sich dabei von einem Expertenteam unterstützen zu lassen, das seine Kalorienaufnahme überwachte und ihm Blitzanalysen in den Ohrknopf übertrug, während Ann nur ihren Ehemann Carl hatte, der mit der Stoppuhr und einem halben Truthahnsandwich im Wald auf sie wartete.
Und im Unterschied zu Lance, der nur auf einen Saisonhöhepunkt im Jahr hintrainierte und -arbeitete, war Ann geradezu wild auf Wettkämpfe. In einer Phase lief sie über einen Zeitraum von vier Jahren hinweg jeden zweiten Monat einen Ultramarathon. Eine anhaltende Belastung dieser Art hätte sie eigentlich schwächen müssen, aber Ann hatte die Regenerationsfähigkeit eines mutierten Superhelden. Sie schien sich in der Bewegung zu erholen und wurde stärker, wenn sie eigentlich nachlassen sollte. Monat für Monat wurde sie schneller, und zu einem makellosen Rekord fehlte schließlich nur
Weitere Kostenlose Bücher