Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
sehen gab einem das Gefühl, als würde man einem sanftmütigen Reporter zusehen, wie er seine Brille ablegte und sich in ein rotes Cape hüllte. Sie reckte das Kinn, ballte die Hände zu Fäusten, ihr Haar umfloss das Gesicht wie ein Jetstream, die Ponyfransen wurden beiseitegeweht und gaben funkelnde braune Pumaaugen frei. In Alltagskleidung ist Ann knapp über 1,50 Meter groß. In Laufshorts nimmt sie das Aussehen eines brasilianischen Models an, mit schlanken Beinen, einem kerzengeraden Ballerinarücken und einem sonnengebräunten Bauch, der hart genug ist, um einem Baseballschläger zu widerstehen.
Ann war in ihrer Highschoolzeit Bahnrennen gelaufen, langweilte sich bei den ewigen Runden im »Hamsterrad« des künstlichen Ovals aber zu Tode, wie sie es ausdrückte, also gab sie noch am College die Leichtathletik auf und wurde Biochemikerin (was ganz gut veranschaulicht, wie sehr sie sich auf der Tartanbahn gelangweilt haben muss, wenn Tabellen des periodischen Systems der Elemente mehr Begeisterung wecken). Jahrelang lief sie nur, um einen Ausgleich zu haben: Wenn Ann vom Studieren genug hatte oder als sie, nach dem Examen, eine anstrengende Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin in San Francisco aufnahm, schüttelte sie den Stress bei einer flinken Runde um den Golden Gate Park ab.
»Ich liebe das Laufen, weil ich den Wind in meinen Haaren spüren möchte«, pflegte sie zu sagen. Für Rennen interessierte sie sich nicht im Geringsten, es bereitete ihr schon genug Freude, wenn sie dem Alltagsgefängnis entrinnen konnte. Schon bald baute sie den Stress im Voraus ab, indem sie die knapp 15 Kilometer bis zu ihrem Labor täglich joggte. Und als ihr nach getaner Arbeit auffiel, dass ihre Beine bereits ausgeruht waren, legte sie auch den Heimweg laufend zurück. Oh, was war schon dabei; solange sie unter der Woche an einem gewöhnlichen Arbeitstag fast 30 Kilometer laufen konnte, war auch nichts Besonderes dran, wenn sie an einem ansonsten im Zustand der Trägheit verbrachten Samstag 35 Kilometer am Stück lief …
… oder 40 …
… oder 48 …
Eines Samstags stand Ann zeitig auf und lief 32 Kilometer. Beim Frühstück ruhte sie sich aus, dann stieg sie noch einmal in die Schuhe und lief dieselbe Entfernung. Sie musste zu Hause ein bisschen klempnern, also holte sie nach dem zweiten Durchgang die Werkzeugkiste hervor und machte sich an die Arbeit. An diesem Abend war sie sehr zufrieden mit sich. Sie war 64 Kilometer gelaufen und hatte dazu noch einen Job, bei dem man sich die Hände schmutzig macht, ganz allein erledigt. Als Belohnung genehmigte sie sich schließlich weitere 24 Kilometer.
88 Kilometer an einem Tag. Ihre Freunde gerieten ins Grübeln und machten sich Sorgen. Litt Ann an einer Essstörung? War sie trainingsbesessen? Floh sie vor irgendeinem unbewussten Freudschen Dämon, indem sie buchstäblich davonlief? »Meine Freunde sagten mir immer wieder, dass ich nicht nach Crack, sondern nach Endorphinen süchtig sei«, berichtete Trason, und ihre Reaktion trug nicht besonders viel zur Beruhigung der Mahner bei: Sie erwiderte gern, das Laufen besonders langer Strecken in den Bergen sei »sehr romantisch«.
Schon klar. Das mörderische, schmutzige, matschige, mit Blutblasen verbundene, einsame Querfeldeinlaufen war also genauso schön wie Mondschein und Champagner.
Aber ja, beharrte Ann, Laufen war etwas Romantisches; und ihre Freunde verstanden das natürlich nicht, weil sie selbst den Durchbruch nie geschafft hatten. Für sie war Laufen nur eine elende Drei-Kilometer-Angelegenheit, mit der sie lediglich die Aussicht auf die ideale Jeansgröße verbanden: Steig auf die Waage, fühl dich mies, setz dir die Kopfhörer auf und bring’s hinter dich. Aber mit dieser Einstellung schafft man keinen Fünf-Stunden-Lauf; dafür muss man sich entspannen, so wie man ganz langsam in ein heißes Bad steigt, bis sich der Körper an den Schock gewöhnt hat und die Sache genießt.
Entspannt man sich tief genug, wird der Körper mit dem Wiegen-Schaukelrhythmus innig vertraut, bis man fast vergisst, dass man sich bewegt. Und sobald man den Durchbruch zu dem sanften, halb freischwebenden Flow geschafft hat, ist der Zustand erreicht, in dem Mondschein und Champagner ins Spiel kommen: »Man muss im Einklang mit seinem Körper sein, man muss wissen, wann man ihn antreiben kann und wann man locker lassen muss«, erklärte Ann. Man muss ganz genau auf die eigene Atmung hören; spüren, wie viel Schweiß sich auf dem
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