Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Beschreibung Zátopeks gar nicht so poetisch – vielleicht war sein Expertenblick klinisch präzise: Seine Liebe zum Leben war an jeder seiner Bewegungen ablesbar .
Ja! Die Liebe zum Leben! Genau! Als Joe Vigil sah, wie Juan und Martimano so gänzlich unbekümmert diesen Hügel hinauftrabten, ließ das sein Herz höher schlagen. Er hatte seinen geborenen Läufer gefunden. Er hatte einen ganzen Stamm geborener Läufer gefunden, und nach dem bisher Gesehenen zu urteilen, waren sie genauso freudvolle und großartige Menschen, wie er gehofft hatte.
Vigil, ein alter Mann, der allein im Wald stand, verspürte plötzlich einen Schub Unsterblichkeit. Er hatte etwas entdeckt. Etwas Gewaltiges. Es ging nicht nur darum, wie man lief; es ging darum, wie man lebte, um die Quintessenz dessen, was uns als Spezies ausmacht und wozu wir bestimmt sind. Vigil hatte seinen Lumholtz gelesen, und in jenem Augenblick gaben die Worte des großen Forschers ihren verborgenen Schatz frei; also das hatte Lumholtz gemeint, als er die Tarahumara als »die Gründer und Macher der Menschheitsgeschichte« bezeichnete. Vielleicht begannen all unsere Sorgen – all die Gewalt, Fettleibigkeit, Krankheit, Depression und Gier, die wir nicht überwinden können – in dem Augenblick, in dem wir aufhörten, als Fußläufer zu leben. Verleugne deine Natur, und sie wird sich einen anderen, hässlicheren Weg suchen.
Vigils Auftrag war klar. Er musste den Weg zurückverfolgen, musste zurückfinden von dem, was aus uns geworden ist, zu dem, was die Tarahumara immer waren, und herausfinden, wo wir die Orientierung verloren haben. Jeder beliebige Actionfilm beschreibt die Zerstörung der Zivilisation als irgendein Zack-bumm-peng-Schauspiel, als Atomkrieg, Komet auf Kollisionskurs oder als Aufstand von Cyborgs, aber der wahre Kataklysmus könnte sich bereits heimlich, still und leise vor unseren Augen anbahnen: Wegen der überhandnehmenden Fettleibigkeit ist bereits jedes dritte in den Vereinigten Staaten geborene Kind diabetesgefährdet. Und das bedeutet: Wir könnten die erste Generation von Amerikanern sein, die länger lebt als ihre eigenen Kinder. Vielleicht waren die alten Hindu-Weisen die besseren ukunftspropheten als Hollywood, als sie vorhersagten, die Welt würde nicht mit einem Knall, sondern mit einem großen, müden Gähnen untergehen. Schiwa, der Zerstörer, würde uns auslöschen, indem er … nichts tat. Die Dinge untätig auslaufen ließ. Seine heißblütige Kraft von unseren Körpern fernhielt. Uns zu Faulpelzen werden ließ.
Coach Vigil war jedoch kein Fanatiker. Ihm schwebte nicht vor, dass wir alle in die Canyons gehen und mit den Tarahumara in Höhlen leben und Mäuse grillen sollten. Aber es musste transferierbare Fertigkeiten geben, nicht wahr? Einfache Tarahumara-Grundsätze, die weiterleben und in amerikanischem Boden Wurzeln schlagen könnten?
Mein Gott, man stelle sich nur den möglichen Nutzen vor. Wie wäre das, wenn man jahrzehntelang laufen könnte und niemals verletzt wäre … Woche für Woche Hunderte von Kilometern zurücklegen und jeden einzelnen genießen könnte … und erleben könnte, wie der Ruhepuls sinkt und aller Stress und Ärger entschwindet, während die eigenen Kräfte zunehmen? Man stelle sich vor, wie Verbrechen, Cholesterinspiegel und Gier allmählich abnähmen, wenn eine Fußläufernation schließlich ihren Rhythmus wiederfände. Das könnte Joe Vigils Vermächtnis sein, über seine Olympialäufer, über seine Triumphe und Rekorde hinaus.
Er hatte noch nicht alle Antworten parat – aber als er die Tarahumara mit ihren Zauberercapes vorbeihuschen sah, wusste er, wo er sie finden würde.
16
Schon komisch: Genau mit demselben Thema beschäftigte sich auch Shaggy, und alles, was er sah, war ein Mann im mittleren Alter mit einem dämonischen Knie.
Shaggys Ohr nahm das Problem zuerst wahr. Stundenlang hatte er das leise Zischen von Juans und Martimanos Sandalen gehört, ein Geräusch, das ähnlich klang wie eine Trommel, die vom Schlagzeuger mit dem Besen bearbeitet wird. Wenn ihre Sohlen den Boden berührten, sah das eher wie ein Streicheln aus, wie ein leichtes, nach hinten gerichtetes Kratzen, bei dem jeder Fuß zunächst in Richtung der Pobacken ausschlug und dann beim nächsten Schritt wieder nach vorne schwang. Stunde um Stunde: zisch … zisch … zisch …
Als sie dann den Mount Elbert hinunterliefen, auf dem schmalen Pfad, der sie in Richtung der 70-Meilen-Marke führte, fiel Shaggy jedoch eine
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