Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
andersherum. Du musst dein Herz der Göttin der Weisheit schenken, ihr alle Liebe und Aufmerksamkeit geben, und die Göttin des Reichtums wird eifersüchtig werden und dir folgen.« Mit anderen Worten: Erwarte nichts von deiner Lauferei, und du wirst mehr bekommen, als du dir jemals vorgestellt hast.
Vigil klopfte sich nicht an die Brust, faselte nicht von der Reinheit der Armut und schwadronierte auch nicht von einem Mönchsorden bettelarmer Marathonläufer. So ein Mist, er war sich nicht einmal sicher, ob er den richtigen Zugang zum Problem gefunden hatte, von einer Lösung ganz zu schweigen. Er wollte nur einen »geborenen Läufer« finden – jemanden, der aus purer Freude lief, wie ein Künstler, der konsequent seiner Inspiration folgt – und dann untersuchen, wie diese Person trainierte, lebte und dachte. Wie auch immer diese Gedankenwelt aussehen mochte: Vielleicht konnte Vigil sie der amerikanischen Kultur wie einen ererbten Sämling wieder einpflanzen und erlebte noch, wie das zarte Pflänzchen im Freiland wieder gedieh.
Vigil hatte bereits den perfekten Prototyp. Es gab da diesen tschechischen Soldaten, einen schlaksigen Kerl, der einen derart schrecklich anzusehenden Laufstil entwickelt hatte, dass er daherkam, »als ob man ihm gerade das Herz durchstochen hätte«, wie ein Sportjournalist einst schrieb. Aber Emil Zátopek liebte das Laufen so sehr, dass er sich sogar in seiner Rekrutenzeit im Ausbildungslager der Armee abends eine Taschenlampe schnappte und zu 30-Kilometer-Waldläufen aufbrach.
In seinen Kampfstiefeln.
Im Winter.
Nach einem langen Tag, an dem er zum Infanteristen ausgebildet wurde.
Wenn der Schnee zu tief war, lief Zátopek in der Badewanne auf seiner Schmutzwäsche, stärkte seine Widerstandsfähigkeit und hatte als Zugabe saubere Unterhosen. Sobald der Schnee soweit geschmolzen war, dass er wieder im Freien trainieren konnte, wurde er zum Berserker; er lief 400 Meter in vollem Tempo, immer wieder, mit bis zu 90 Wiederholungen, und zwischendurch betrieb er aktive Erholung, indem er 200 Meter joggte. Wenn das Training beendet war, hatte er fast 55 Kilometer Tempoläufe hinter sich. Auf die Frage nach dem Tempo reagierte er mit einem Schulterzucken; er verzichtete auf eine Zeitnahme. Zur Verbesserung der Schnellkraft übten er und seine Frau Dana mit einem Wurfspeer, den sie sich auf einem Fußballfeld zuwarfen, hin und her, wie ein langes, tödliches Frisbee. Eine von Zátopeks Lieblingsübungen brachte all seine Lieben zusammen: Dabei lief er mit den Soldatenstiefeln durch den Wald und trug seine geliebte Frau auf dem Rücken.
Natürlich war das alles eine Zeitverschwendung. Die Tschechen glichen dem Bobteam vom Simbabwe: Sie hatten keine Tradition, keine Trainer, keine einheimischen Talente, keine Siegchance. Aber es hatte etwas Befreiendes, wenn man nicht beachtet wurde; Zátopek hatte nichts zu verlieren, andererseits aber auch alle Freiheiten, auf jedem erdenklichen Weg den Sieg anzustreben. Man nehme als Beispiel seinen ersten Marathonlauf: Jeder Fachmann weiß, dass der beste Trainingsaufbau für die 42,195 Kilometer lange Strecke aus langen, langsamen Läufen besteht. Jeder weiß es, mit einer Ausnahme: Emil Zátopek; er trainierte lieber Hundertmeterläufe.
»Wie man langsam läuft, weiß ich schon«, sinnierte er. »Ich dachte, es käme darauf an, schnell zu sein.« Sein scheußlicher, an Todeszuckungen erinnernder Laufstil war ein gefundenes Fressen für die Pointenschmiede unter den Leichtathletik-Fachjournalisten (»Das abscheulichste Horrorspektakel seit Frankenstein.« … »Er läuft, als ob der nächste Schritt sein letzter wäre.« … »Er sieht aus wie ein Mann, der auf einem Förderband mit einem Kraken ringt«), aber Zátopek lachte nur über diese Sprüche. »Ich bin nicht talentiert genug, um beim Laufen auch noch lächeln zu können«, pflegte er zu antworten. »Gut, dass wir hier nicht beim Eiskunstlauf sind. Hier bekommt man nur Punkte fürs Tempo, nicht für die künstlerische Gestaltung.«
Und meine Güte, was war er für eine Schnatterliese! Zátopek ging mit seinen Konkurrenten um, als sei er beim Speed Dating. Sogar mitten im Rennen plauderte er gern mit anderen Läufern und probierte seine paar Brocken Französisch und Englisch und Deutsch aus, sodass sich ein nörgelnder Brite schließlich über Zátopeks »unaufhörliches Gerede« beschwerte. Bei Auftritten im Ausland hatte er zuweilen so viele neue Freunde in seinem Hotelzimmer zu Gast, dass
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