Bosmans/Deleu 01 -Nackte Seelen
Verstappen verschwunden war, bemerkte Deleu: »Er hat eine Vorgeschichte, Jos.«
»Wer? Verstappen? Welche Vorgeschi…«
»Nein, nein, der Mörder. Er hat so etwas schon einmal getan, und jetzt eskaliert seine Mordlust allmählich. Sie wird systematisch zunehmen. Wir müssen uns auf noch viel Schlimmeres gefasst machen. Und wir müssen nach ähnlichen Fällen in der Vergangenheit suchen. Er hat etwas gegen Frauen.«
»Neunundneunzig Prozent aller Serienmörder haben etwas gegen Frauen, Dirk.«
»Ich glaube, dass der Mann nur pro forma ermordet wurde. Seine Seitensprünge haben gar nichts damit zu tun. Dem Täter ging es um die Frau.«
»Willst du damit sagen, wir sollen die Spur zu der Edelnutte links liegen lassen?«
»Nein, nein … aber die Verletzungen des Mannes, diese leichteren Stichwunden, die sollen uns nur in die Irre führen. Die stammen nicht von dem Kind.«
»Verdammt, Deleu, wie kommst du denn jetzt schon wieder darauf?«
»Keine Ahnung.«
Deleu nahm den Autopsiebericht zur Hand, schlug ihn auf und schloss die Augen. »Irgendetwas stimmt nicht, aber ich komme im Moment nicht darauf, was genau!«
»Okay, Dirk, lass es dir noch einmal durch den Kopf gehen. Ich krieche jetzt für eine halbe Stunde Verspaille in den Arsch, dusche anschließend und treffe dich in einer Stunde wieder. Wir könnten zusammen zu Mittag essen.«
»Gut, bis dann.«
Beide Männer verließen das Büro. Bosmans verschwand durch die Hintertür, während Deleu in Gedanken versunken zum Foyer schlenderte. Auf der Treppe begegnete ihm Peeters, der Journalist von
Het Laatste Nieuws.
Deleu wünschte, er hätte Bosmans begleitet. Peeters, ein ausgekochter Pressehai, hatte offenbar Blut gerochen. Er beschleunigte seine Schritte und fasste Deleu am Ärmel. Seine wachen Schweinsäuglein glänzten feucht, und er leckte sich über die spitzen Zähne. Als Peeters den Mund öffnete, der wie eine scharfe Furche sein Gesicht durchschnitt, wäre Deleu beinahe schlecht geworden.
»Ah, Deleu, was machen Sie denn hier?«
»Das wissen Sie doch wahrscheinlich besser als ich.« Deleu riss sich los und eilte zu seinem Wagen.
»Ist es so schlimm?«, rief Peeters ihm nach.
Deleu sprang in seinen Dienstwagen und raste los. Auf einmal kam alles wieder in ihm hoch: die langwierige Reha, die Kaltstellung im Fall Lucien Dom, die schmutzige Rolle, die Peeters bei der sogenannten »Spaghetti-Affäre« gespielt hatte. Damals hatte sich der zuständige Richter im Fall Dutroux dazu hinreißen lassen, eine Einladung der Eltern eines der Opfer zu einem Spaghetti-Essen anzunehmen. Daraufhin hatte man ihn und zahlreiche andere Ermittler wegen Befangenheit von dem Fall abgezogen. Und Deleu dachte an dieses eine Foto, durch das die Ermittlungen auf fatale Weise ins Stocken geraten waren, was vermutlich mehrere Kinder das Leben gekostet hatte.
Zum Zeitpunkt der Verhaftung war Deleu Lucien Dom, einem Industriellen und notorischen Pädophilen, dicht auf den Fersen gewesen. Deleu hatte genau gewusst, dass Dom mindestens einen Kindermord auf dem Gewissen hatte. Er hatte die Beweise bereits in den Händen gehabt, digitale Fotos, kopiert von einem Snuff-Video, auf dem Dom ein Kind rituell abschlachtete. Doch die Fotos verschwanden, bevor sie als Beweismaterial registriert werden konnten. Eines der vielen Geheimnisse der armseligen belgischen Justiz.
Nachdem man Deleu von dem Fall abgezogen hatte, wurden die Ermittlungen eingestellt. Zunächst ermittelte Deleu noch eine Zeit lang auf eigene Faust weiter. Doch kurze Zeit später, als er nach den Angaben eines Informanten eine Spur verfolgte, die in höhere politische Kreise führte, wurde er auf der Auffahrt zu seiner Garage niedergestochen. Der mutmaßliche Täter, ein Junkie, starb im Krankenhaus von Löwen, bevor er ein Geständnis hatte ablegen können. Dabei war er zwar drogenabhängig, aber nicht selbstmordgefährdet gewesen. Nach dem feigen Anschlag auf Deleu, für den man ihn angeheuert hatte, wurde er – wahrscheinlich von seinen Auftraggebern – mit Hilfe einer angeblichen Überdosis aus dem Weg geräumt.
Doch dieser Verdacht konnte nie erhärtet werden, und die Drahtzieher hinter der Vertuschungsaktion rund um Lucien Dom und seine Komplizen – von denen Deleu auf Anhieb mindestens drei hätte beim Namen nennen können – wurden nie angeklagt. Nicht mal verhört wurden sie. Deleu fand das ganze System zum Kotzen, aber das spielte momentan keine Rolle. Jetzt ging es um unschuldige Opfer. Eine
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