Bosmans/Deleu 01 -Nackte Seelen
Haarspitzen.
Kurz bevor er an der Reihe war – es saßen nur noch zwei Wartende vor ihm –, nahm jemand neben ihm Platz. Deleu grüßte den Mann mit einem knappen Kopfnicken. Es war ein älterer Herr mit Blumenkohlohren, devotem Lächeln und einem Barett auf dem Glatzkopf, wie es die französischen Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg getragen hatten. Zähneknirschend fragte sich Deleu, was er tun sollte. Sollte er den Mann vorlassen? Mit dem Pastor im Beichtstuhl einen Termin vereinbaren?
Deleu schaute auf seine Rolex. Viertel nach zwei. Um Viertel vor drei hatte er eine heimliche Verabredung mit Jos Bosmans in der Taverne
De Kleine Keizer.
Bosmans legte seine Termine immer auf ungerade Zeiten, ein Überbleibsel aus einem Kurs für Zeitmanagement, da er aus Erfahrung wusste, dass die Leute dann eher zur Pünktlichkeit neigten.
Deleu lächelte. Also um drei. Er kannte Bosmans jetzt schon so lange. Er hatte nur beiläufig genickt, als Deleu ihm erzählte, dass er Barbara seinen Fehltritt gebeichtet hatte. Doch seine Augen sagten viel mehr, als Worte hätten ausdrücken können. Im Grunde war Bosmans sein bester Freund. Als wären sie miteinander verwachsen.
In dem Augenblick, als er beschlossen hatte, den älteren Herrn vorzulassen, legte eine alte Dame, offenbar die Gattin des Widerstandskämpfers, ihre knochige Hand auf dessen Knie. Sie setzte sich und lächelte Deleu und dem letzten Wartenden vor ihm, einem verpickelten Jugendlichen, freundlich zu.
Deleu beschloss daraufhin, sich Hermans im Beichtstuhl vorzuknöpfen.
Fünf vor halb drei. Der Teenager saß seit etwa drei Minuten hinter der Gardine. Als er mit gelangweiltem Blick in den fahlen Augen wieder herauskam und gleichgültig zum Ausgang latschte, erhob sich Deleu und räusperte sich ausgiebig.
Der entscheidende Moment! Vorhin, als er seinen Koffer gepackt und am Empfang die Rechnung beglichen hatte, ja, sogar noch auf dem Weg zur Kirche, war er sich seiner Sache so sicher gewesen. Er hatte vorgehabt, dem Pastor mal tüchtig auf den Zahn zu fühlen. Doch jetzt war er von Zweifeln erfüllt. Er beschloss, Hochwürden noch einmal über den Stromableser von den Stadtwerken auszuhorchen und dann abzuwarten, in welche Richtung sich das Gespräch entwickelte.
Er hielt es für ausgeschlossen, dass zwei Stromableser an Mariette Pauwels’ Tür geklingelt hatten, und fragte sich, warum die Personenbeschreibungen von Josef Hermans und Mariette Pauwels so stark voneinander abwichen. Und auch, dass Hermans bei seiner Vernehmung von einem Polizisten gesprochen hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
War das ein Versprecher gewesen? Hatte der Pastor in den wenigen Augenblicken, in denen er den Mann beim Hinausgehen gesehen hatte, Harry Luyten, den Stromableser, unwillkürlich mit Harry Luyten, dem Polizisten, assoziiert, dem er vorher wahrscheinlich ein paarmal in der Kirche begegnet war? Vielleicht sogar im Beichtstuhl?
Hatte sich Harry Luyten an jenem Tag verkleidet? Trug er eine graue Perücke, bevor er zu Mariette Pauwels ging? Wo genau hatte der Pastor ihn gesehen? An der Tür oder auf der Einfahrt? Hatte Luyten genügend Zeit gehabt, um zwischen der Begegnung mit dem scheidenden Hermans und der Begrüßung von Mariette Pauwels unbemerkt eine Perücke abzusetzen? Aber warum hatte er sie nicht einfach aufgelassen?
Harry Luyten hatte das junge Pärchen in Eppegem ermordet. In Luytens Postfach wurde ein Schlüssel vom Haus der Poulders gefunden, nicht jedoch vom Haus der Verbists. Nico De Staercke hatte ein Verhältnis mit Mevrouw Verbist gehabt, und daher war es durchaus vorstellbar, dass er eventuell Mevrouw Verbist ermordet hatte oder sie von Harry Luyten umbringen ließ – schließlich machten sich die De Staerckes dieser Welt nicht selbst die Hände schmutzig. Aber was in Gottes Namen hatten De Staercke und Luyten mit den Poulders zu tun?
Außerdem hatte De Staercke ein wasserdichtes Alibi: Er hatte an dem Tag, an dem die Poulders ermordet wurden, auf einem Parteikongress eine Rede gehalten. Es war also, leider, sonnenklar, dass der Rechtskonservative Nicolas De Staercke nur durch einen dummen Zufall mit den Morden in Verbindung gebracht worden war.
Das alles ergab überhaupt keinen Sinn.
Hatte, als Harry Luyten bei Mariette Pauwels saß, sein Komplize, der Schlächter, draußen auf ihn gewartet? Oder hatte er die Morde begangen, während Luyten Mariette ablenkte, und hatte Hermans diesen Mann, den Mörder, zufällig gesehen?
Angenommen,
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