Bosmans/Deleu 01 -Nackte Seelen
Welches Bild hatte sich für immer in ihre Netzhaut eingebrannt? Bosmans hätte sonstwas dafür gegeben, dieses Bild rekonstruieren zu können.
»Wahrscheinlich hat sie gar nicht gewusst, wie ihr geschah«, sagte Vereecken, der Bosmans an die Schulter fasste und nervös hustete.
»Hoffentlich, Walter, hoffentlich. Wer ist sie?«
»Wahrscheinlich die Mutter der jungen Frau.«
Bosmans drehte sich auf dem Absatz um. Der schielende Pierre hockte mit einer Pinzette und einem Pinsel vor dem Sofa. Bosmans ging zu ihm hinüber.
»Was ist das?«
»Holzspäne, Chef. Der Mistkerl hat sich hier prächtig amüsiert. Er hat hier auf dem Sofa gesessen und in aller Ruhe das Kreuz unten angeschnitzt.«
Jos Bosmans brummte etwas Unverständliches und ging rasch hinunter ins Erdgeschoss. Als er die Wohnung betrat, war Doktor Souveryens, der Rechtsmediziner, gerade dabei, eine klaffende Kopfverletzung zu untersuchen. Bosmans trat näher, betrachtete die kleine alte Frau zu seinen Füßen und dachte unwillkürlich an seine Mutter, die auf ihrem Sterbebett genauso ausgesehen hatte, bleich und verkrümmt.
»Schädel eingeschlagen mit einem schweren Gegenstand«, bemerkte Souvereyns. Er drehte sich um und zeigte zum Büfett. »Wahrscheinlich der blutverschmierte Kandelaber, der da oben steht. Ein harter Schlag hat offenbar ausgereicht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, konzentrierte er sich wieder auf seine makaberen Tätigkeiten.
Bosmans schaute Souvereyns über die Schulter, doch als dieser ein winziges Messgerät hervorholte und es in die Wunde bohrte, hatte Bosmans genug. Er setzte sich auf das Sofa, mit leerem Blick und den Verstand auf null geschaltet.
Welches finstere Spiel war hier gespielt worden? Welcher hoffnungslos kranke Irre hatte dieses Blutbad angerichtet?
Bosmans schaute auf die Uhr. Zwanzig nach drei. Er blickte sich um. Verstappen war nirgends zu sehen. Gut so. Bosmans griff nach seinem Handy und rief die Auskunft an.
»Könnten Sie mir die Nummer der Taverne
De Kleine Keizer
in Mechelen heraussuchen?«, flüsterte er, nahm seinen Kuli zur Hand und zog einen zerknitterten Zettel aus dem Portemonnaie.
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31
D irk Deleu schaute auf die Uhr. Viertel nach drei. Es sah Bosmans gar nicht ähnlich, sich zu verspäten. Jos Bosmans war der pünktlichste und konsequenteste Mensch, den er kannte. Es musste etwas dazwischengekommen sein. Deleu beschloss, noch ein Hoegaarden lang zu warten, und winkte dem Ober.
Er zog noch einmal ein Resümee. Der Schlüssel zur Küchentür aus dem Haus der Poulders im Postfach von Luyten. Da versuchte sie jemand hinters Licht zu führen. Der Schlächter hatte den Schlüssel in Luytens Postfach deponiert, um ihm den Mord in die Schuhe zu schieben. Das bedeutete, dass Luyten den Mörder gekannt hatte. War Luyten katholisch gewesen? War er regelmäßig zur Kirche gegangen? Er musste Hermans auf jeden Fall gekannt haben, weil dessen Name und Telefonnummer in seinem Notizbuch standen. War diese Spur jemals weiterverfolgt worden? Deleu fluchte verhalten.
Die Ermittlungen wiesen noch viel zu große Lücken auf. Er musste unbedingt versuchen, mit Hilfe von Bosmans der Akte über die ermordeten Teenager in Limburg habhaft zu werden. Das war der Schlüssel, die Verbindung zwischen dem Pastor und den übrigen Morden.
»Hallo, ist hier irgendwo ein Dirk Deleu?«, rief die Wirtin, eine griechische Schönheit.
»Ja, ich, ich bin das!« Deleu eilte zur Theke und hatte das Gefühl, dass alle in der Taverne ihn angafften. Was nicht weiter verwunderlich war, denn schließlich hatten die Zeitungen ausführlich über seine Eskapaden berichtet. Sein Ausrutscher hatte in den Medien größere Aufmerksamkeit erregt als ein Seitensprung von, sagen wir, Bruce Willis oder Demi Moore.
»Deleu.«
»Dirk, ich bin’s, Jos.«
»Jos! Wo steckst du denn? Ich habe wichtige Neuigkeiten. Du musst sofort herkommen!«
»Ich habe auch wichtige Neuigkeiten. Ich befinde mich gerade an einem Tatort.«
Es blieb eine Weile still. Deleu brach als Erster das Schweigen.
»Das darf doch nicht wahr sein! Wieder er?«
»Ja, drei Frauen bestialisch ermordet, die jüngste war schwanger.«
»Jos, du musst sofort kommen! Ich glaube, ich weiß, wer er ist!«, flüsterte Deleu.
»Willst du mich veräppeln?«, antwortete Bosmans, ebenfalls im Flüsterton.
»Nein, das ist mein voller Ernst. Ich warte hier auf dich.«
»Aber ich kann hier nicht einfach so verschwinden, das weißt du genau!«
»Okay, dann komme ich zu dir.
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