Bosmans/Deleu 01 -Nackte Seelen
Ave-Marias beten.«
»Ich vergebe dir alle deine Sünden«! Musste es nicht heißen: »Gott vergibt dir alle deine Sünden«, oder: »Ich vergebe dir alle deine Sünden im Namen Gottes«?
Deleu brachte kein Wort mehr über die Lippen und sprang aus dem Beichtstuhl, als rase ein führerloser Zehntonner auf ihn zu. Wie ein gehetztes Tier. Dieser Limburger Dialekt! Die beiden Teenager, die vor acht Jahren in den Wäldern bei Sint Truiden ermordet worden waren. Deleu hatte recherchiert, dass Hermans zu dieser Zeit in einer Limburger Gemeinde tätig gewesen war. Die Jugendlichen, die von einem Jäger in betender Haltung gefunden worden waren. Deleu biss sich auf die Unterlippe, bis sie blutete. Er schmeckte das süße Blut, atmete ein paarmal tief ein und aus und fand allmählich seine Selbstbeherrschung wieder.
Inzwischen war der alte Mann mit den Blumenkohlohren hinter der Gardine verschwunden. Seine Gattin war nirgends mehr zu sehen. Fingerabdrücke! Speichelproben!
Deleu zögerte keinen Augenblick und ging entschlossen nach vorne zum Altar. Er wickelte ein Spitzentuch um die rechte Hand und griff nach dem glänzenden Kelch, aus dem er den Pastor hatte trinken sehen. Fingerabdrücke!
Als Deleu den Kelch in das Tuch wickelte, tauchte plötzlich ein buckliger alter Mann auf. Deleu hob den Kelch an die Lippen und trank daraus.
»He, was soll das?«
»Wer sind Sie denn?«, erkundigte sich Deleu.
»Ich bin der Küster. Aber das spielt doch keine Rolle, was bilden Sie sich überhaupt ein? Stehlen im Hause Gottes! Ich rufe sofort die Polizei!«
»Entschuldigung, ich hatte nichts Unrechtes im Sinn. Ich bin kein Dieb, das müssen Sie mir glauben. Ich wollte nur mal wissen, ob wirklich Wein in dem Kelch ist. Die Frage beschäftigt mich schon seit Jahren, und ich dachte: Jetzt oder nie!«
Der Küster stemmte die Hände in die Taille und entblößte beim Lachen sein ruiniertes Gebiss.
»Na schön, dann will ich Ihnen das mal glauben. Aber jetzt machen Sie, dass Sie wegkommen!«
»Äh, ja, und ich bitte nochmals um Entschuldigung.«
»Es ist sogar guter Wein!«, rief der Küster Deleu noch nach, als dieser die Flucht ergriff. Gut, dass er den Kelch nicht mitgenommen hatte – es hätte den Ermittlungen nur geschadet. Wahrscheinlich wäre es nicht mal zu einem Prozess gekommen. Gestohlenes Beweismaterial, entwendet von einem Beamten, der vom Dienst suspendiert worden war. Oder könnte er gerade deswegen als Belastungszeuge auftreten?
Nein, zu gefährlich – der Küster. Wie sehr es ihm auch in den Fingern juckte, Deleu beschloss, nicht noch einmal zurückzukehren. Fünf nach drei, höchste Zeit für das Treffen mit Bosmans.
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30
J os Bosmans graute es vor dem Anblick. Er würde sich wohl nie daran gewöhnen. Schon wieder drei Menschen brutal ermordet. Zwar war das Holzkreuz diesmal nicht an die Wand genagelt worden, aber dennoch bezweifelte Bosmans keinen Augenblick, dass dies das Werk des Schlächters war.
Er drängte den Polizeifotografen unsanft beiseite und hob vorsichtig den Kopf der weiblichen Leiche an. Fast noch ein junges Mädchen war sie gewesen. Das Ende des unten angespitzten Kreuzes ragte hinten aus ihrem Hals hervor. Das Kruzifix musste ihr mit unglaublicher Wucht in den Mund gerammt worden sein, denn die vorderen Schneidezähne waren ausgeschlagen und die linke Wange war eingerissen.
Rund um den entseelten Körper, der nackt auf dem Küchentisch lag, standen heruntergebrannte Kerzen. Im Unterleib klaffte eine große Wunde.
Als Bosmans ohnmächtig die Fäuste ballte und die Augen zum Himmel emporhob, fiel sein Blick auf ein groteskes, bräunliches Kreuz auf der Küchenwand. Wahrscheinlich war die überdimensionale Zeichnung ursprünglich blutrot gewesen. Das Blut an den Wänden sowie die gesamte Kulisse erinnerte ihn an das, was er über die Charles-Manson-Morde gelesen hatte. Bosmans ging hinüber ins Wohnzimmer und wandte sich an einen Kriminaltechniker.
»Und?«
Der Mann zeigte auf einen eingepuderten Fingerabdruck und nickte nur.
Dieser Fall geriet vollkommen außer Kontrolle. Der Mörder wurde immer dreister. Bosmans drehte sich um und stieg die Treppe hinauf, wo sich ähnliche Szenen abspielten. Ein Haufen geschäftiger Polizisten und eine Leiche.
Das geblümte Kleid von Florence Loyer war aufgerissen vom Bauchnabel bis zur Kehle. Hals und Unterkiefer waren mit geronnenem Blut bedeckt. Sie lag mit dem Kopf leicht nach hinten geneigt auf dem Teppich, die Augen erstaunt aufgerissen.
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