Bosmans/Deleu 01 -Nackte Seelen
Verspaille musste gestern auf einer spontanen Pressekonferenz unter dem Druck der Öffentlichkeit zugeben, dass der Schlächter sich noch immer auf freiem Fuß befindet. An der Leiche Harry Luytens fand man eine winzige purpurrote Faser, wie sie auch auf der Kleidung von Mevrouw Poulders entdeckt wurde, die dem ersten Familienmord zum Opfer fiel.
Die Mecheler Kriminalpolizei geht derzeit davon aus, dass der Mörder der Familien Poulders und Verbist möglicherweise auch Harry Luyten umgebracht hat. Vorläufig gibt es aber noch keine konkreten Hinweise auf die Identität des Schlächters.
(weiter auf S. 3 , 4 und 5 )
Jos Bosmans seufzte tief, stieß einen wüsten Fluch aus, zerknüllte die Zeitung und warf sie wütend ans Fenster. Verspaille, dieser verdammte Idiot! Jetzt war das Maß voll! Bosmans nahm sich vor, sich direkt an den Justizminister zu wenden. Als er bemerkte, dass die Serviererin ihn erstaunt anstarrte, war er froh, dass außer ihm keine anderen Gäste im Lokal saßen.
Er hob die Zeitung auf und faltete sie auseinander. Auf der zweiten Seite stand die Schlagzeile:
De Staerckes diplomatische Immunität nicht mehr gefährdet
Bosmans fluchte erneut. De Staercke schien sich tatsächlich unbeschadet aus der Affäre zu ziehen. Auch das noch!
Rechtsanwalt Sonck lotste seinen Mandanten geschickt zwischen den Hindernissen hindurch – Dribbelwunder Ronaldo auf dem Weg zum nächsten Tor. Mist!
Sonck hatte De Staercke eingeflüstert, seinem Berater Storme die Dreckarbeit zu überlassen. Storme hatte unter Eid erklärt, bei dem Telefonat zwischen De Staercke und Harry Luyten dabei gewesen zu sein, und wurde derzeit anstelle von De Staercke vernommen.
Bosmans faltete die Zeitung ordentlich zusammen und setzte sich darauf.
Der Fall drohte völlig aus dem Ruder zu laufen, und er hatte keine Ahnung, wie er es verhindern sollte. Es schien, als seien ihnen die Medien immer einen Schritt voraus. Unter solchen Umständen vernünftig zu ermitteln war schlichtweg utopisch.
Die Serviererin lächelte ironisch und fragte: »Kann ich Ihnen noch etwas bringen, Mijnheer Untersuchungsrichter?«
»Äh, nein, vielen Dank«, antwortete Bosmans. Auch er konnte dem Medienrummel offenbar nicht entgehen.
Er kaute auf seinem Brötchen herum und fragte sich, wie Deleu Barbara die leidige Sache wohl beigebracht hatte. Er hatte mehrmals mit ihm telefoniert, aber Deleu hatte kein Wort darüber verloren.
Bosmans fiel ein, dass er um drei Uhr mit Deleu in der Taverne
De Kleine Keizer
verabredet war, und er nahm sich vor, auf der Hut zu sein. Verspaille hatte Verstappen wahrscheinlich beauftragt, ihn und Deleu zu beschatten. Oder bildete er sich das nur ein? Er schaute auf die Uhr: Viertel vor elf. Bosmans aß bewusst außerhalb der üblichen Essenszeiten, um das Gedränge in den Lokalen zu vermeiden.
Er verspeiste seine Apfeltasche und sein Baguette, trank seine Tasse Kaffee, verbrannte sich den Gaumen, fluchte und ging zur Kasse.
Es war ein kalter, aber sonniger Tag. Bosmans genoss die herrliche Wintersonne in vollen Zügen und schlenderte über den Botermarkt. Er hatte sich den Vormittag freigenommen – es schien ihm eine Ewigkeit her –, um für Eva, seine ältere Tochter, ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen. Heute Abend wurde bei ihr zu Hause gefeiert.
Er freute sich schon auf das Wiedersehen mit Stijn und Maite, seinen Enkeln. Stijn war sieben, Maite vier. Maite: Von Anfang an hatte er den Namen eigenartig gefunden. Er hatte Eva nach der Geburt darauf hingewiesen, dass das Kind sein Leben lang mit diesem komischen Namen herumlaufen müsse, aber das hatte sie ihm ziemlich krummgenommen. Na ja, seine Tochter und sein Schwiegersohn waren erwachsen, und es waren schließlich ihre Kinder. Stijn und Maite, seine zwei blonden Engelchen. Sie sahen seiner Exfrau Maud unglaublich ähnlich.
Maud war auch eingeladen. Evas Mann Bas – auch so ein komischer Name – hatte es ihm ganz nebenbei am Telefon erzählt. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie auf einer Feier zusammentreffen würden.
Meist luden die Kinder sie abwechselnd ein. Vermutlich, um mögliche Konflikte von vornherein zu vermeiden.
Der Streit zwischen Maud und ihm war ein heißes Eisen, über das innerhalb der Familie nicht gesprochen wurde. Die Situation hatte sich eben so entwickelt, und alle fanden sich damit ab. »Wie mit dem schiefen Turm von Pisa«, brummte Bosmans. Dieses seltsame Bild brachte ihn zum Lächeln. Tief im Inneren musste er
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