Bosmans/Deleu 02 -Totenspur
den herumliegenden Trümmern überquerten, sah Nadia einen flatternden schwarzen Mantel in der Unterführung verschwinden.
»Zum Bahnhof, Dirk!«
»Ich übernehme die Bahnsteige, du den Rest!«, röchelte Deleu. »Fang bei den Schaltern an. Fordere dieBahnpolizei zur Unterstützung an. Alle Ausgänge sofort absperren … Den Bahnverkehr anhalten!«
»Die Bahnpolizei!«, schrie Nadia Mendonck und riss vor dem Fahrkartenschalter einen jungen Mann grob zurück, der gerade mit seiner Freundin zusammen Fahrkarten kaufte.
Der Schalterbeamte sah nicht mal auf. Während er mit einer schildkrötenhaft langsamen Bewegung die Hinfahrkarten nach Löwen in die Schiebevorrichtung fallen ließ, blickte er desinteressiert über seine Hornbrille und sagte: »Junge Frau, Sie müssen schon warten, bis Sie an der Reihe sind.«
»Polizei!«, rief Nadia Mendonck. »Ich brauche Unterstützung von der Bahnpolizei, und zwar sofort!«
Der untersetzte Mittfünfziger ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, rieb sich über das Doppelkinn, sah mit skeptischem Blick auf seine Armbanduhr und sagte, höflich lächelnd, aber aufreizend träge: »Bert, tja, der schläft jetzt wohl, junge Frau. Es ist Mittagspause. Zwischen zwölf und ein Uhr sind alle zu Tisch.«
Nadia Mendoncks ohnehin schon gerötetes Gesicht lief puterrot an. Sie hieb mit der Faust auf den Schalter, dass die Fahrkarten in der Schublade erzitterten, fluchte herzhaft und schrie: »Eine Frau in einem langen schwarzen Mantel. Wo?«
Der junge Mann, offenbar ein Student, sagte zögernd: »Entschuldigung, Mevrouw, aber ich habe eben einen Mann in einem langen schwarzen Mantel in Richtungder Bahnsteige gehen sehen. Er schien es ziemlich eilig …«
Den letzten Satz hörte Nadia schon nicht mehr, denn sie eilte mit großen Schritten auf die Bahnhofsgaststätte zu und hielt mit einem Auge den Durchgang zu den Bahnsteigen im Blick, mit dem anderen sah sie in das dunstige Lokal hinein. Nur drei Reisende saßen darin. Zwei Männer, in eine gesellige Unterhaltung vertieft, tranken am langen Tresen ein Bier, und an einem der Tische schlürfte eine in Pelz gehüllte ältere Dame eine Tasse Kaffee und aß dazu Leonidas-Pralinen aus einer offenen Schachtel auf ihrem Schoß.
Nadias Verstand arbeitete auf Hochtouren. Die Bahnsteige. Sonst konnte sie nirgends hingerannt sein. Nachdenken! Sie eilte zurück zum Fahrkartenschalter. »Sagen Sie diesem Bert, er soll sofort zum anderen Ausgang gehen und ihn bewachen«, rief sie dem Bahnbeamten zu. »Und zwar bewaffnet! Und lassen Sie den Bahnhof räumen! Wir verfolgen eine äußerst gefährliche Person!«
Der Mann hinter dem Schalter hatte jetzt offenbar verstanden, worum es ging. Er zog den Kopf ein und griff nervös zu seinem Diensttelefon.
Gleich duckt er sich noch unter seinen Tisch, dachte Nadia Mendonck und dirigierte gleichzeitig zwei Reisende, einen Mann und eine Frau, die angeregt plaudernd zu den Bahnsteigen unterwegs waren, mit unmissverständlichen Gesten in die entgegengesetzte Richtung. Der dunkelhäutige Mann setzte zu einemProtest an, doch Nadias Blick sagte ihm, dass es keinen Sinn hatte.
Vorsichtig ging die Ermittlerin in Richtung der Bahnsteige weiter. Ihre Schritte in der scheinbar unendlich langen, schwach beleuchteten Unterführung klangen hohl. Das Pflaster war stellenweise in einem äußerst schlechten Zustand. Jedes noch so kleine Geräusch hallte hohl in dem Gewölbe wider. Sehr gut, dachte Nadia, während sie ihre Walther aus dem Schulterholster zog. Die schwere Pistole vermittelte ihr einerseits ein angenehmes Gefühl, andererseits machte sie die Waffe nervös. Sie hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, dass sie damit wirklich einmal auf einen Menschen schießen müsste. Nadia nahm sich vor, keinesfalls überstürzt zu handeln, und entsicherte die Waffe vorerst nicht. Sie ließ den gestreckten Arm wieder sinken und verbarg die Pistole in den Falten ihres Mantels.
Rechts befanden sich die Toiletten. Vielleicht gab es dort eine Klofrau, die gerade als Geisel genommen wurde. Nadia rann der Schweiß in Strömen von der Stirn und tropfte ihr in den Kragen, wo er sich anfühlte, als ob er auf der Stelle gefror. Ihr Atem kondensierte in kleinen weißen Wölkchen in der kalten Unterführung.
Als sie mit angehaltenem Atem in die Damentoilette hineinschlich, umklammerte sie die Pistole, als wäre sie ihr letzter Halt in diesem Leben. Wo bist du, Dirk?, fragte sie sich in Gedanken. Erleichtert stellte sie fest,dass
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