Bosmans/Deleu 02 -Totenspur
der Zwillingsbruder hat den Deckel zugeschlagen. Vater und Mutter Bekaert glaubten, ihre Tochter sei hinaus auf die Straße geflüchtet, und so ist das Kind erfroren. Der Fall erregte lange Zeit die Gemüter, und der Prozess zog sich über drei Jahre lang hin. Der Vater kam schließlich aus Mangel an Beweisen ungeschoren davon, und der damals siebenjährige Sohn Michel wurde der Mutter zugesprochen. Die Frau kehrte mit dem Jungen nach Anduze, ihrer Heimatstadt, zurück. Über das, was danach geschah, wissen wir bisher nur wenig, aber Tatsache ist, dass der kleine Junge irgendwann bei einer Pflegefamilie landete. Die Sûreté machte die Familie über die Leitungdes Krankenhauses ausfindig, in dem Michel Bekaert eine Geschlechtsumwandlung durchführen ließ. In diesem Krankenhaus lernte er auch sein – vermutlich – erstes Opfer kennen, den Transsexuellen Viktor Laplagne. Im Gegensatz zu Laplagne, der die ganze Prozedur durchlaufen hatte, war Bekaert jedoch nur zur Hälfte umgestrickt worden.« Bosmans’ leicht grobe Bemerkung brachte den überfüllten Saal zum Lachen. »Michel Bekaert, halb Frau, halb Mann, ging also hinaus in die Welt – mit den Folgen, die ich Ihnen bereits ausführlich erläutert habe.« Bosmans warf erneut einen Blick auf die Uhr.
»Warum hat er die Geschlechtsumwandlung durchführen lassen? Wollte er etwa die Stelle seiner Schwester einnehmen?«, fragte eine beleibte Dame.
»War es Penisneid gegenüber seinem Vater?«, hakte eine andere Journalistin nach, eine blondierte junge Frau mit einem Piercing im linken Nasenflügel.
»Das müssen Sie ihn schon selbst fragen«, erwiderte Bosmans, der nun ganz offensichtlich die Nase voll hatte. Er saß jetzt schon seit anderthalb Stunden hier.
»Noch Fragen?«, seufzte er.
»Wie ist die Sûreté Viktor Laplagne auf die Spur gekommen?«
Bosmans, der gerade durstig aus seinem Mineralwasserglas trank, gab Deleu einen Wink, und dieser übernahm das Mikrofon.
»Das Skelett von Laplagne, welches als das von Françoise Bourgeois durchgehen sollte, wurde verkohlt inderen abgebranntem Haus gefunden, zusammen mit der verbrannten Leiche ihrer Lebensgefährtin. Da man von einem Verbrechen aus Leidenschaft ausging, sind die Ermittlungen damals eingestellt worden.«
»Ach, das gibt’s also auch in Frankreich!«, rief jemand.
Deleu ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, ignorierte die Bemerkung und fuhr ungerührt fort: »Aufgrund der belgischen Hinweise auf Françoise Bourgeois wurde die Leiche exhumiert und erneut untersucht. Dabei hat man festgestellt, dass es sich um das Skelett eines Mannes handelte, das überdies eigenartige Einkerbungen am Schambein aufwies.«
»Warum haben Sie nicht schon viel früher eingegriffen, wenn Sie wussten …«
»Die Untersuchungen wurden erst vor drei Tagen abgeschlossen«, unterbrach Bosmans den vorlauten Journalisten. »Außerdem ist es etwas anderes, eine verkohlte Leiche zu obduzieren, die schon seit drei Jahren unter der Erde liegt, als eine Grippe zu diagnostizieren oder einen Zeitungsartikel zu schreiben. Doch um wieder auf das eigentliche Thema zurückzukommen: Außerdem wurde durch eine gründliche stomatologische Untersuchung festgestellt, dass die fehlenden oberen Schneidezähne erst post mortem entfernt worden waren.«
»Genau«, pflichtete Deleu ihm bei.
»Was spielt das für eine Rolle?«, fragte ein anderer Journalist.
Dirk Deleu und Jos Bosmans setzten gleichzeitig zu einer Erwiderung an. Der Untersuchungsrichter forderte Deleu mit einer Geste zum Weiterreden auf.
»Françoise Bourgeois hatte eine Brücke«, erklärte Deleu. »Ihr fehlten die beiden oberen Schneidezähne. Mit anderen Worten, der Mörder hat bei Viktor Laplagne, der für Françoise Bourgeois gehalten werden sollte, bewusst diese beiden Zähne entfernt.«
»Warum hat Michel Bekaert die Geschlechtsumwandlung nur zur Hälfte durchführen lassen?«, fragte ein Journalist von der Zeitung
De Standaard.
»Das wissen wir nicht. Der Leiter des Hôpital Bonaventure, der behandelnden Privatklinik in Anduze, erzählte uns nur, dass Bekaert und Laplagne auf einmal beide gleichzeitig von der Bildfläche verschwunden waren. Noch weitere Fragen? Nein? Gut. Dann vielen Dank, meine Damen und Herren«, sagte Bosmans, raffte seine Unterlagen zusammen und verschwand schnell und ohne viel Aufhebens von der Bildfläche.
»Mijnheer Bosmans?«
48
Jos Bosmans hatte eine Hand tief in der Manteltasche vergraben, in der anderen hielt er eine
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