Bosmans/Deleu 02 -Totenspur
die Damentoiletten leer waren. Die Waffe im Anschlag, stieß sie mit der Fußspitze eine nach der anderen die mit Klosprüchen verunzierten Türen auf. Die drei Kabinen waren ebenfalls leer.
Mit dem Mantelärmel wischte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht und atmete tief ein und aus. Kein Mensch weit und breit. Als hätten alle instinktiv gespürt, dass Spannung in der Luft lag. Tief fliegende Schwalben, Vorboten nahenden Unheils.
Wo bist du nur, Dirk Deleu?
Nadia Mendonck ging zu der Tür, auf der ein altmodischer Herr mit Spazierstock abgebildet war. Sie wagte kaum, Luft zu holen. Ein junger Mann in einem auffallend schicken Anzug stand am Urinal. Nadia konnte ihn nur von hinten sehen und wusste nicht, was sie tun sollte. Trotz der heiklen Situation konnte sie den Anflug eines Lächelns nicht unterdrücken, als sie dachte: Gott sei Dank dreht er sich nicht um. Da der Mann sie offenbar nicht gehört hatte, schlich sie möglichst geräuschlos weiter zu den Kabinen.
Zwei der Türen waren angelehnt. Nur die mittlere schien abgeschlossen zu sein, obwohl kein Laut zu hören war. Der Mann am Urinal hustete, hatte aber wohl immer noch nicht begriffen, was los war. Mit der Fußspitze stieß Nadia die beiden angelehnten Türen weiter auf. Beide leer. Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, fluchte im Stillen, weil beim Hinhocken ihr linkes Knie knackte, und spähte unter der Tür hindurch.
Als sie den Saum eines schwarzen Mantels erblickte, dachte sie: Mein Gott, hier drin ist sie! Ihre verwirrten Sinne registrierten gleichzeitig ein Rascheln und den Hauch eines schwülen Parfüms. Sie blähte die Nasenflügel. Chanel No. 5, dachte sie. Instinktiv rollte sie sich zur Seite.
Das Stilett traf keine lebenswichtigen Organe, bohrte sich aber tief in Nadias rechte Schulter. Der stechende Schmerz ließ sie mitten in der Bewegung erstarren. Krampfhaft drückte sie sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie sah ein von Hass und schierer Mordlust verzerrtes Gesicht. Blitzende Zähne, stechende Augen, nichts als Hass … Ein Anblick, der sich ihr für ewig ins Gedächtnis einbrannte.
Die Frau im Männeranzug drehte sich um und rannte davon. Fassungslos starrte Nadia Mendonck ihre Pistole an. Sie war noch immer gesichert.
»Diiiiirk! Diiiiirk!«
Ihr markerschütternder Schrei ließ Dirk Deleu, der vergeblich von Bahnsteig zu Bahnsteig hastete, erstarren. Er ging gerade eine Treppe hinunter, auf dem Weg ins untere Stockwerk, um von dort aus Bahnsteig sieben zu erkunden.
»Dirk, ich bin verletzt! Hilf mir! Hier … unten!«
Nadias Worte klangen immer schwächer. Immer drei Stufen auf einmal nehmend, sprang Dirk die Treppe hinunter. Seine Sinne registrierten zwei Dinge gleichzeitig: Nadia Mendonck, die gekrümmt und leichenblass um die Ecke stolperte, und einen jungen Mann,der mit einem blutigen Stilett zum Ausgang rannte. Dort versperrte gerade eine vollschlanke Dame mit einer Riesenschachtel Pralinen in der linken Hand die Tür, auf die der Mann blindlings zusteuerte. Nur noch fünf Meter trennten den Mann von der reichlich mit Päckchen beladenen Pelzträgerin.
»Halt! Stehen bleiben, oder ich schieße!«
Noch während Bert Bleux von der Bahnpolizei versuchte, die Aufmerksamkeit der dicken Dame auf sich zu lenken, hörte er fünf … sechs … sieben laute Schüsse. Er riss die Hände schützend über den Kopf und warf sich instinktiv zwischen die Fahrräder.
Nach den Explosionen wurde es unheimlich still. Als sei die Welt stehen geblieben. Bleux rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das aufgeschürfte Knie und schlich zur Tür, die rostige Dienstwaffe im Anschlag. Die Dame lag bäuchlings zwischen den Pralinen und zitterte am ganzen Leib. Der Bahnpolizist lugte vorsichtig um die Ecke und hielt den Atem an.
Zwei Meter vor dem Ausgang lag ein sterbender Mann, über den sich zwei bewaffnete Personen beugten, ein Mann und eine Frau. Die Frau war an der Schulter verletzt. Das markige »Stehen bleiben!«, das er hatte rufen wollen, blieb ihm im Halse stecken, wo es auf den Brechreiz traf, der seinen Mageninhalt mit Wucht nach draußen beförderte.
Die schmauchende Pistole noch immer in der Hand, ging Dirk Deleu in die Hocke und zog mit einem Ruckdie schwarze Perücke nach hinten, die über die Augen des Mörders gerutscht war.
Der Rücken des jungen Mannes im italienischen Maßanzug war blutüberströmt. Er stöhnte und hob den Kopf, wobei sich die Lippen zu einer schmerzverzerrten Grimasse verzogen.
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