Bosmans/Deleu 03 -Ins blanke Messer
Abram. Der ist leichter zu erwischen. Wohnt in einer Villa mit gepflasterter Auffahrt. Parasit!«
Er folgte dem Südländer, der einen Fez und eine Strickjacke von unbestimmter Farbe trug, ins Wohnzimmer. An der Wand hing ein Ölgemälde mit einer grasenden Schafherde. In einem Sessel saß eine Frau und strickte, wobei ihre Stricknadeln in höllischem Tempo aneinanderklapperten. Der Marokkaner ließ sich, ohne ein Wort zu sagen, auf ein geblümtes Sofa fallen und sah weiter fern. Der arabische Sender strahlte ein religiöses Programm aus. Heftig gestikulierende Menschen, monotone, kehlige Laute. Die mollige Frau hob den Blick.
Der Ermittler schaute in ihre rotgeränderten Augen und räusperte sich. »Mein herzliches Beileid, Mevrouw. Mein Name ist Deleu von der Kripo Mechelen. Könnte ich mich vielleicht einen Augenblick mit Ihrer Tochter unterhalten?«
Fatima el Kamali warf einen nervösen Blick auf den Rücken ihres Mannes. Sie nickte und zeigte auf eine Holzwendel treppe, die ins obere Stockwerk führte. Deleu zögerte und sah seinerseits den Paterfamilias an, doch der schien sich nicht um das zu kümmern, was um ihn herum geschah.
Die Wendeltreppe, die das Wohnzimmer in zwei Hälften teilte, schien himmelhoch. Als Deleu hinaufsteigen wollte, stieß Ali Benaoubi plötzlich einen Fluch aus, sprang auf, drängte den Ermittler von der Treppe weg und bedeutete ihm, sich hinzusetzen. Die Frau seufzte und fuhr mit dem Stricken fort. Deleu nahm auf einem Resopal-Küchenstuhl Platz, der nicht in das mit Nippes überladene Wohnzimmer passte, und wandte sich dem Fernseher zu, der den Raum mit arabischer Musik und dem befremdlichen Anblick eines fanatischen Vorsängers füllte.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte die Frau und legte ihr Strickzeug weg.
»Danke, gern.«
»Was kann ich Ihnen anbieten?«
»Was Sie dahaben«, antwortete Deleu zögernd.
»Cola, Limonade, Eistee, Wasser?«
»Ein Glas Wasser, bitte.«
Die Frau schlurfte in die Küche, wobei ihr dicker, blauschwarzer Pferdeschwanz auf ihrem Rücken hin und her schwang. Oben wurde mit lautem Knall eine Tür zugeschlagen. Das Kauderwelsch im Fernsehen war inzwischen verstummt, und man sah nur noch Schnee.
Schnee.
Deleu rieb sich den feuchten Hals.
Die Marokkanerin brachte ihm ein Glas Mineralwasser, und während sie sich mit einem Taschentuch die Augen rieb, stellte sie eine kleine Flasche mit dem restlichen Wasser daneben.
Als Deleu von dem lauwarmen Evian trank, dachte er bei sich, dass sie einmal eine sehr attraktive Frau gewesen sein musste.
»Bitte schenken Sie sich selbst nach«, bat Yussufs Mutter tonlos und ließ sich wieder auf das Sofa mit der selbstgehäkelten Überdecke sinken.
Sie schüttelte einige lose Haarsträhnen aus dem Gesicht und griff nach ihrem Strickzeug. Dann knarrten die oberen Treppenstufen. Ali Benaoubi schob seine Tochter vor sich her. Fügsam ging das Mädchen hinunter. Sie setzte sich Deleu gegenüber, ohne ihn oder ihre Eltern anzusehen.
»Machen Sie’s kurz«, knurrte ihr Vater und zappte verbissen weiter.
Deleu betrachtete das Mädchen. Die Schwester des ermordeten Yussuf war unbestreitbar eine Schönheit, trotz ihrer verweinten Augen. Sie besaß etwas Mystisches. Etwas Orientalisches. Etwas Ungreifbares. Er schluckte und trank von seinem Mineralwasser. Das Mädchen starrte traurig vor sich hin. Ab und zu warf sie einen Blick in Richtung ihrer Mutter, die ununterbrochen weiterstrickte.
Deleu begann.
»
Juffrouw.
Ich möchte Ihnen gern einige Fragen stellen. Fühlen Sie sich dazu in der Lage, diese …«
»Machen Sie’s kurz«, brummte Ali Benaoubi erneut. Deleu sah sich um. Benaoubi blickte ihn mit grimmiger Miene an.
»Ist es Ihnen lieber, wenn ich sie mit aufs Präsidium nehme?«, erwiderte der Ermittler.
Vater Benaoubi schwieg, und die Holzperlen seiner Gebetskette wanderten paternosterartig unter seinen breiten Daumen hindurch.
»Was wollten Sie bei Ihrem Bruder?«
»Ich sollte ihm etwas zu essen bringen und seine schmutzige Wäsche abholen.« Sie warf einen vorwurfsvollen Blick in Richtung ihrer Mutter.
»Darf ich Ihnen einige Fragen stellen?«
Das Mädchen schaute ängstlich zu seinem Vater hinüber und dann auf die Standuhr. »Ich muss noch mein Fahrrad aufpumpen. Wenn ich es morgen früh mache, komme ich wieder zu spät in die Schule.«
Deleu rieb sich über die Bartstoppeln. Typisches Symptom für einen posttraumatischen Schock. Die banalsten Dinge erscheinen plötzlich
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