Bosmans/Deleu 04 -Todeswahn
in der Ziekenliedenstraat versuchte, seine zitternden Hände unter Kontrolle zu bringen, nahm Deleu vor dem Bildschirm in dem versteckten Kabuff Platz und schaltete den PC ein. Mit Hilfe des Explorers suchte er nach JPEG- und BMP-Dateien. Nach Fotos.
Im Verzeichnis »Pics« befanden sich an die dreißig Bilder. Deleu öffnete fieberhaft eines nach dem anderen.
Bei den meisten handelte es sich um Aufnahmen von Frauen und Mädchen, überwiegend Urlaubsschnappschüsse von schlechter Qualität. Plötzlich ging sein Atem schneller. Nadia beugte sich über ihn und zeigte auf »Herman.jpg«.
Die Pose mochte gekünstelt wirken – Herman Verbist in Jeans und weißem T-Shirt, ungeschickt an eine Mauer gelehnt, eine hellblaue Kornblume zwischen den Lippen –, aber dieses Foto war gestochen scharf. Die hohe Stirn, die Verbist auf dem Hochzeitsfoto noch hatte, war nun bedeckt, und er trug sein Haar in der Mitte gescheitelt. Einige widerspenstige Strähnen hingen ihm ins Gesicht. Ansonsten schien er kaum verändert. Seine stumpfen Augen blickten traurig in die Kamera. Traurig und gehetzt – vermutlich hatte er das Foto mit Selbstauslöser aufgenommen.
Als Deleu es ausdrucken ließ, erhielt er ein einwandfreies Porträt des mutmaßlichen Mörders und Kindesentführers.
»Ricardo.jpg«, das einzige andere Männerfoto, zeigte das genaue Gegenteil Herman Verbists. Ein sonnengebräunter Playboy, die schicke Sonnenbrille lässig auf die Nasenspitze geschoben, blickte mit leuchtenden Augen herausfordernd in die Kamera, das markante Kinn selbstbewusst nach vorn gereckt. Deleu fasste sich an sein eigenes Kinn und schloss die Augen.
Frauen – Mädchen – chatten – morden!
»Soraya.jpg« zeigte ein wunderschönes dunkelhäutiges Mädchen mit Rastalocken und strahlendem Lächeln. Niemandem hätte ihr Anblick einen eiskalten Schrecken in die Glieder gejagt – außer Dirk Deleu. Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte er das Bild ungläubig an.
»Nadia … das ist …« Deleu wandte sich um. Seine Kollegin hatte eine Hand vor den Mund geschlagen. Auch sie hatte sofort geschaltet.
Sie kannten dieses Mädchen. Vor wenigen Stunden hatten sie ein Foto von ihr gesehen. Es befand sich in der Akte der jungen Schwarzen, deren enthauptete Leiche vor zwei Jahren im Wasser des Mechelener Zennegats gefunden worden war.
»Das kann doch nicht wahr sein!«, ächzte Nadia. »Das ist das Mädchen, das vor zwei Jahren hier am Bahnhof von Eppegem zum letzten Mal gesehen wurde.«
Deleu hatte inzwischen das ICQ -Fenster geöffnet. In einem Raster erschienen fünf Namen. Sanjana, Soraya, Black Beauty, Hazel-eyes und Kussmündchen.
Klick.
»Soraya«.
Klick.
»Open history file«.
Dasselbe Foto und zahlreiche Textdateien. »SorChat 1 « bis einschließlich »SorChat 253 «.
Nadia hatte sich neben ihn gekniet, und er spürte ihren warmen Atem im Nacken.
Deleu bekam eine Gänsehaut.
»SorChat 1 « enthielt ein Gedicht. Ein Liebesgedicht.
Soraya, meine Geliebte,
Wenn ich sterbe, wünsche ich mir deine Hände auf meinen Augen.
Ich will, dass die Lichtähren deiner geliebten Hände
mich noch einmal ihre Quellfrische spüren lassen:
Ich will die Sanftheit fühlen, die mein Schicksal veränderte.
Ich will, dass du lebst, solange ich schlafend auf dich warte.
Ich will, dass deine Ohren den Wind noch hören.
Ich will, dass du den Duft des Meeres, das wir beide liebten, riechst,
und dass du weiter in dem Sand läufst, in dem wir liefen.
Ich will, dass alles, was ich liebe, weiterlebt und dass du,
die ich liebte und besang mehr als alles andere, weiter blühst in voller Pracht,
damit du alles berühren kannst, was dir meine Liebe gibt,
damit mein Schatten dein Haar nicht verhüllt,
damit alle den Grund meines Liedes kennen.
Pablo Neruda
Plötzlich tauchte der Name Sanjana ganz oben auf der Liste auf, und die roten Buchstaben färbten sich blau.
Deleu sah Nadia an, die ihm mit angehaltenem Atem zunickte. Mit zitternden Fingern tippte er:
RICARDO Hallo. Wie geht es dir?
[home]
Dienstag, 25 . November – 12 Uhr 27
I n der Ziekenliedenstraat, in der Wohnung von Sandra Janssens, blieb die Zeit stehen. Herman Verbists Gesicht wurde aschfahl, als der Name Ricardo, sein ICQ -Alias, blau aufleuchtete.
»Molok!«, stöhnte er und tastete mit verkrampften Fingern nach dem Startknopf. Kurz bevor seine Muskeln ihm den Dienst versagten, gelang es ihm, den
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