Bosmans/Deleu 04 -Todeswahn
Computer auszuschalten.
Er blickte sich ängstlich um, aber der Pappkarton war nicht mehr da.
Das Sofa auch nicht.
Der Tisch brach in Stücke.
Bits und Bytes verschmolzen zu einem irrealen Brei.
Die Welt um ihn herum zerfiel. Wirbelnde Planeten und Staubteilchen in diffusem Sonnenlicht.
Herman Verbist schlug die Hände vor das Gesicht und blieb reglos sitzen. Starr wie eine Statue. Wie ein Neandertaler, der von einer Lawine überrascht wurde. Nur am Heben und Senken seiner Brust erkannte man, dass er noch lebte.
Stöhnend stützte er sich auf einem Ellbogen ab und blickte durch seine gespreizten Finger, stemmte sich an der Lehne des Bürostuhls hoch, schwankte und stolperte über den Papierkorb.
Wichtchen wurde von dem Lärm geweckt und fing an zu schreien.
Herman Verbist hörte es nicht. Er lag rücklings auf dem Boden, eine Hand noch immer vor die Augen gepresst. Er versuchte, sich aufzurappeln, aber seine Augen fanden keinen Fixpunkt, keinen Halt. Alles im Zimmer erschien ihm fremd und unwirklich. Ein Bild wurde mit einem Messer aus der Wand geschnitten und fiel zu Boden. Bevor es unten aufschlug, löste es sich langsam in der immensen Stille auf. Es zerfiel in der unendlichen Leere.
Eine extreme Müdigkeit überwältigte ihn und lähmte seine Muskeln. Auf den Ellbogen schleppte er sich zu Wichtchen, denn obwohl er sie nicht hörte, spürte er intuitiv, dass etwas nicht in Ordnung war.
Am Karton angekommen, stemmte er mit einer übermenschlichen Anstrengung seinen Oberkörper hoch und zog mit den Zähnen eine Klappe auf, die durch das Strampeln des Kindes zugefallen war.
Im Karton lag eine Puppe. Ein aus Eis geschnitztes Baby, das nach ihm schnappte. Der auf- und zuklappende Mund jagte einen Angstschock durch Verbists Körper. Er zitterte, als Wichtchens Gesichtszüge verschmolzen und dann zerbröckelten: die Lippen, die Nase, die Wangen, erst ein Auge und dann das andere. Während er auf die Überreste Wichtchens hinunterblickte, dieses einst so entzückenden Babys, griffen seine Finger wie Klauen ins Leere.
Als eine salzige Träne zwischen ihre Lippen sickerte, hörte Wichtchen auf zu weinen, überrascht von dem neuen Geschmackserlebnis. Sie riss die Augen auf und hielt inne, als könne sie den Schmerz ihres Entführers schmecken.
Herman Verbist ächzte und presste die Hände auf die Schläfen. Sein Kopf wurde von Bildern überflutet. Eine visuelle Invasion. Ein psychedelisches Farbkarussell. Es gab kein Entrinnen. Licht und Dunkel und Himmel und Hölle und Licht und wieder Dunkel und Hölle und Himmel.
Nichts verändert sich, jedenfalls nicht wesentlich.
Der schnarchende Fleischklops neben mir, meine Gattin oder besser: meine Gefängniswärterin. In guten wie in schlechten Zeiten. Obwohl es glühend heiß ist im Zimmer, riecht sie immer noch nicht verdorben. Zwar säuerlich, aber nicht verdorben.
Mücken zählen oder Blumen auf den Gardinen. Stunden-, tage-, nächte-, monatelang. Ein Brennen im Schritt. Innerlich schreiend. Zuerst noch Widerstand, nach zwei Minuten dann resigniertes Sichfügen. Nichts mehr. Die ewige Leere. Fundamentale Gleichgültigkeit. Teil des Mobiliars. Ein fader Abklatsch nie gehegter Ideale. Ein Versager. Ohne jedes Talent. Tote Gedichte. Sterblichkeit. Sehnsucht nach nichts. Keine Gefühllosigkeit. Sich selbst riechen. An sich selbst vorbeireden. Suchen nach der Sinnlosigkeit. Werde ich sterben, ohne gelebt zu haben? Ich muss etwas tun, etwas Bedeutendes. Ich habe einen wahnsinnigen Plan geschmiedet.
So hatte alles angefangen.
Zwei Jahre war das her.
Ich stehe auf, gehe ins Badezimmer und putze mir die Zähne. Ich schaue in den Spiegel. Mein Vater blickt mich an. Er lacht, dass man seine gelben Zähne sieht. Ich erbreche, schleiche die Treppe hinunter und gieße mir ein Glas Whiskey ein. Ich zaudere, kratze mich im Schritt und sehe auf die Uhr. Viertel nach zehn. Noch dreißig Minuten. Der letzte Zug fährt um Viertel vor elf vom Bahnhof Eppegem ab. Trinke ich oder trinke ich nicht? Planen … Fliehen … Risiko … Entscheiden …
Wochen-, nein, monatelang habe ich an meinem Plan herumgefeilt. Aber ich komme zu keinem Ergebnis, kann mich nicht entscheiden. Sie dagegen schon. Sie kommt. Es überläuft mich kalt. Ich blicke in den Spiegel. Heute Nacht begehe ich eine Tat, eine wirklich bedeutende Tat.
Ich lebe. Ich wähle. Ich bestimme. Ich gehe hin!
Herman Verbist schnaufte durch die Nase aus.
Als er die Geschehnisse jener Nacht erneut
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